Zwänge
Ungefähr 2-3% der Bevölkerung leiden
unter Zwangserkrankungen. Aus Scham trauen sich
viele Betroffene nicht zur Therapie. Die
Erfolgschancen der Therapie haben sich aber
durch die Entwicklung von
verhaltenstherapeutischen Methoden in den
letzten Jahren stark verbessert .
Wir behandeln:
-
Kontrollzwänge (z.B.
bezogen auf elektrische Haushaltsgeräte,
Türen, Wasserhähne usw.)
-
Zwanghafte
Langsamkeit
-
Waschzwänge, d.h.die
Angst mit bestimmten ekel- und
angstauslösenden Substanzen, Objekten oder
Menschen in Berührung zu kommen
-
Zwangsgedanken
(einschießende störende und quälende
Gedanken)
-
Überwertige Ideen
-
Magisches Denken
-
zwanghaftes Horten
und Sammeln
-
zwanghafte
Langsamkeit
Eigene
Publikationen (Auszug)
Hoffmann, N. & Hofmann, B. Expositionszentrierte
Verhaltenstherapie bei Ängsten und Zwängen.
(2018)
Beltz-Verlag, Weinheim. (4. Auflage)
Hoffmann,
N.
(1998). Zwänge und Depressionen.
Pierre Janet und die Verhaltenstherapie.
Berlin: Springer
Hofmann,
B.
& Hoffmann, N. (1998). Kognitive
Therapie bei Zwangsstörungen.
In:
H.
Ambühl (Hrsg.): Psychotherapie der
Zwangsstörungen. Thieme, Stuttgart, New York.
Hoffmann,
N.
& Hofmann,B. (2005). Verhaltenstherapie
bei Zwangsgedanken.
In
H.-U. Wittchen & P. Neudeck (Hrsg.):
Konfrontationstherapie bei psychischen
Störungen. Stuttgart: Hogrefe.“
Hofmann, B. &
Hoffmann, N. (2005). Subjektkonstituierung
als
Ziel bei der Bewältigung von Zwangsstörungen.
In: H.
Ambühl (Hrsg.): Psychotherapie der
Zwangsstörungen. Thieme, Stuttgart, New York.
Hoffmann,
N.
& Hofmann, B. (2021). Zwanghafte
Persönlichkeitsstörung und Zwangerkrankungen.
Berlin,
Heidelberg: Springer
Hoffmann, N. & Hofmann, B. (2014) Subjektkonstituierende
Hilfen bei In-vivo Expositionen von
Zwangskranken
Kooperation bei
gemeinsamem Handeln.
Psychotherapie im Dialog,
2, 2014
Informationen
zu
Zwangserkrankungen:
Erleben, Symptome, häufige Fragen und
Selbsthilfe
Wie werden Zwänge erlebt?
Hier einige typische
Äußerungen:
– Ich sehe ja jeden Abend, dass der
Gasherd aus ist, aber ich kann nicht aufhören,
an den Knöpfen herumzudrehen, immer wieder und
immer wieder. Mir ist so, als kommt das Erleben
im Kopf nicht richtig an und ich kann mir nicht
vertrauen.
– Ich könnte nie die Straße überqueren, wenn ein
Leichenwagen vorbeigefahren ist. Ich müsste
meine Schuhe ständig reinigen oder gleich
wegwerfen. So bin ich manchmal gezwungen, den
größten Umweg in Kauf zu nehmen. Es ist eine
Qual.
– Der Gedanke, ich könnte im Gerichtssaal mitten
in meinem Plädoyer mich plötzlich ausziehen,
verfolgt mich Tag und Nacht. Ich weiß, dass es
Quatsch ist, aber ich werde diese entsetzliche
Vorstellung nicht los.
Zwangsgedanken in Abgrenzung zu
„normalen Sorgen“
Sorgen betreffen reale
Lebensprobleme. Sie mögen Außenstehenden
vielleicht übertrieben vorkommen, sie sind aber
auch für sie nachvollziehbar und behalten den
Bezug zur Wirklichkeit. Ist die entsprechende
Angelegenheit gut verlaufen, dann hören die
Sorgen meist auf. Zwanghaft wiederkehrende
Gedanken oder Befürchtungen hingegen »Ich könnte
mit Hundekot in Berührung gekommen sein, ich
könnte aus Unachtsamkeit ein Kind verletzt
haben«, und so weiter beziehen sich in der Regel
auf einen relativ eingeschränkten Bereich. Er
ist charakteristisch für die jeweilige Störung
des Betroffenen und ist für Außenstehende in
dieser Brisanz überhaupt nicht mehr einfühlbar:
Wie kann man sich den ganzen Tag mit Hundekot
beschäftigen?
Vor allem aber veranlassen diese Gedanken die
Zwangskranken zu einem Verhalten, wie ständigem
Waschen, Kontrollieren oder dergleichen mehr,
das völlig übertrieben und unangemessen
erscheint. Es liegt deutlich außerhalb des
Bereichs der »normalen« Vorsichtsmaßnahmen. Vom
Zwang betroffene Menschen aber werden immer
wieder entgegnen: Ich kann nicht anders. Weder
gegen diese Gedanken noch gegen diese Gefühle
kann ich mich wehren, auch wenn sie noch so
abwegig erscheinen. Ich muss dann entsprechend
handeln, um wenigstens einigermaßen dagegen
anzukommen. Darin besteht das Erlebnis des
inneren Zwanges, des grundlegenden Merkmals
aller Zwangserkrankungen.
Zwangserkrankungen sind mehr oder
weniger schwere seelische Störungen
verschiedener Art, die aber alle in irgendeiner
Form das Erlebnis des Zwanges als gemeinsames
Element beinhalten. Schauen wir uns an, was
darunter zu verstehen ist.
Im Bereich der Zwangserkrankungen wird eine
Erfahrung ausgesprochen, die im normalen
Seelenleben unbekannt ist: Das Erleben,
gezwungen zu sein, bestimmte Gedanken zu denken
oder bestimmte Handlungen auszuführen, ohne sich
dagegen wehren zu können.
Anders ausgedrückt: Das Erleben, dass eine Kraft
in uns uns zu etwas zwingt, ohne dass wir ihr
ausreichend Widerstand entgegenzusetzen hätten.
Diese Erfahrung ist in höchstem Maße bedrohlich.
Man kann sie nicht einordnen, sucht vergeblich
nach einer Erklärung, will widerstehen und
erlebt dabei immer wieder Niederlagen. Das ganze
Leben wird negativ beeinflußt, ja, es kann zu
einem einzigen Kampf zwischen den normalen,
gesunden Anteilen und dem Zwang werden.
Die Symptome der
Zwangserkrankung
Wir wollen an dieser Stelle die
wichtigsten Symptome des Zwanges aufzählen und
kurz erläutern. Wir werden sie in den folgenden
Kapiteln ausführlicher kennen lernen.
Zwangsbefürchtungen
sind Ängste, die sich angesichts bestimmter
Objekte oder Situationen aufdrängen, ohne dass
objektive Gründe dafür vorliegen.
Beispiele sind die Angst, durch
Berührung von Münzen mit Tollwut angesteckt zu
werden, oder aber die Angst, dass durch das
Ausgeben eines Geldscheines, der eine 19 in der
Seriennummer enthält, einem lieben Menschen ein
schreckliches Unheil droht.
Statt Angst kann in einigen Fällen ein
Ekelgefühl im Vordergrund stehen, so z.B. beim
Berühren von Türklinken, wenn die Befürchtung
besteht, sie könnten mit Schimmelpilz in Kontakt
gekommen sein.
Zwangsgedanken sind Gedanken
oder bildhafte Vorstellungen, die scheinbar ins
Bewußtsein „einschießen” und schwer abgestellt
werden können, auch dann, wenn der Betroffene
sie als „sinnlos” erlebt.
Beispiel von Zwangsgedanken: Einer Mutter drängt
sich immer wieder die Idee auf, sie könnte ihr
Kind unabsichtlich verletzen; ein
Konzertbesucher wird immer wieder von dem
Gedanken geplagt, er könnte plötzlich obszöne
Worte in den Raum schreien.
Zwangsgrübeleien sind immer
wiederkehrende und sich wiederholende
Gedankenketten.
Sie können Probleme des täglichen Lebens
betreffen, führen aber zu keinem Ergebnis, weil
sie immer wieder im Kreise verlaufen. Eine
Hausfrau grübelt: „Habe ich den Küchenboden
gesäubert? Habe ich ihn wirklich saubergemacht?
Wann ist er wirklich sauber? Könnte es sein, daß
er an der Oberfläche zwar sauber, aber in der
Tiefe noch schmutzig ist?”
Zwangsgedanken können aber auch ganz
banale Angelegenheiten betreffen: „Hat die
Sprecherin im Fernsehen die neue Frisur, weil
ihr Ehemann oder der Chef es so wollten? Wenn
sie sie selbst ausgesucht hat, gefällt sie dann
dem Ehemann und dem Chef? Oder nur dem Ehemann
und nicht dem Chef?” Darüber hinaus können
Zwangsgedanken sich aber auch mit sehr
ausgefallenen und bizarren Fragen beschäftigen:
„Rechnet der liebe Gott nach dem Dezimal- oder
nach dem binären System?” - „Was wäre aus dem
Volk Israel geworden, wenn das Rote Meer sich
nicht vor Moses geteilt hätte?”
Zwangsimpulse sind
sich immer wieder zwanghaft gegen inneren
Widerstand aufdrängende Antriebe, bestimmte
Handlungen auszuführen.
So kann z.B. der Impuls erlebt werden, alte
Zeitungen vor dem Wegwerfen immer wieder
daraufhin zu kontrollieren, ob nicht wichtige
Geschäftspapiere dazwischengeraten sind. Ein
anderes Beispiel ist der Impuls, beim Fernsehen
immer wieder die Jackenknöpfe der Schauspieler
zu zählen.
Zwangshandlungen
sind meist aufgrund von Zwangsimpulsen oder
Zwangsbefürchtungen vorgenommene Handlungen, die
ausgeführt werden, obwohl der Kranke sich
innerlich dagegen sträubt oder sie gar als
unsinnig erkennt.
So etwa: zwanghaft wiederholte Kontrollen der
Wasserhähne oder das zwanghafte Waschen der
Hände nach der Berührung mit Objekten, die man
für gefährlich hält.
Wir können insgesamt vier Typen von
Störungen unterscheiden:
Kontrollzwänge, Berührungsängste und
Waschzwänge, zwanghafte Langsamkeit und
Zustände, bei denen Zwangsgedanken eindeutig das
Bild beherrschen. Die meisten Betroffenen leiden
vor allem an einer dieser Störungen, wobei
allerdings auch unterschiedliche Varianten
zusammen auftreten können.
Die Entstehung einer
Zwangserkrankung
In einer bestimmten Lebensphase,
meist vor dem 25. Lebensjahr, tauchen gehäuft
Gedanken und Vorstellungen auf, die einen
ausschließlich negativen Charakter haben.
Beispiele sind: Ich könnte etwas auf der Straße
übersehen und dadurch jemanden in Gefahr
bringen. Ich könnte mit Krebs erregendem
Schimmelpilz in Berührung kommen und ihn
weiterverbreiten, und so weiter. Bislang hat
dieser Gedanke kaum eine Rolle gespielt, erlangt
aber nun eine enorme Bedeutung. Manchmal
vollzieht sich die Entwicklung mehr schleichend,
oft erfolgt aber auch der Einbruch der Gedanken
mit großer Wucht, praktisch von einem Moment zum
anderen. Oft sind es Lebenszeiten, in denen
allgemeine Unsicherheit, Orientierungslosigkeit
(ich habe keinen richtigen Boden unter den
Füßen) vorherrschen. Oft treten Zwänge auch nach
Demütigungssituationen auf, in denen die
Intimgrenze, die Grenze zwischen „Selbst und
Fremd“ durchbrochen wurde. Mit den Gefühlen kann
in der Realität nicht so gut umgegangen werden.
Nun wird das Gefühl symbolisiert, die Nebenbühne
des Zwanges tritt in den Vordergrund des
Erlebens: Künstliche bedrohliche
Gedankenkonstruktionen entstehen (die allerdings
nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben).
In allen Fällen erleidet die Person den Zwang,
etwas gegen das befürchtete Unheil zu
unternehmen. Ist zum Beispiel ein Kontakt mit
einem gefürchteten Objekt wie einer Türklinke,
die in der Vorstellung mit Schimmelpilz
verseucht sein könnte, erfolgt, so muss die
Reinheit des eigenen Körpers durch wiederholtes
Händewaschen wiederhergestellt werden. In
anderen Fällen gilt das Unheil als noch nicht
erfolgt: Ich kontrolliere die Straße, um ganz
sicher zu gehen, dass ich nichts übersehen habe,
wie einen Nagel, an dem ein Kind sich verletzen
könnte.
Auf der einen Seite stehen also zwanghaft
auftretende Gedanken, begleitet von unangenehmen
Gefühlen wie Unruhe, Angst oder Ekel, auf der
anderen Seite glaubt der Betroffene etwas
unternehmen zu müssen, um die damit verbundene
Gefahr abzuwenden. Das ist die allgemeine
Struktur von Zwangserkrankungen.
Selbsthilfe und
Psychotherapie
bei Zwangserkrankungen
Und draußen war ein Tag aus Blau und Grün
mit einem Ruf von Rot an hellen Stellen
Rainer Maria Rilke
Das sollten Sie wissen:
Häufige Fragen zur
Zwangserkrankung
Bevor wir zu den Möglichkeiten einer nützlichen
und verantwortungsvollen Selbsthilfe bei
Betroffenen Stellung nehmen, möchten wir noch
kurz auf einige typische Fragen eingehen, die
mir von Patienten und in Briefen immer wieder
gestellt werden.
Auf die Art können wir auch einiges von dem
schon Gesagten kurz wiederholen, zusammenfassen
und ergänzen.
Ich habe Ihnen meine Probleme
geschildert. Was ist mit mir los? Bin ich
krank?
Was Sie mir geschildert haben, kann
man in der Tat eine »seelische Störung« oder,
wenn Sie so wollen, eine Krankheit nennen. Aber
dieser Ausdruck soll Sie nicht erschrecken.
Genau wie beim Menschen einige seiner Organe,
wie das Herz oder die Leber oder die
Wirbelsäule, in ihrer
Funktionsweise gestört sein können, kann auch
seine »Seele« zeitweilig aus dem Gleichgewicht
geraten. Er leidet dann gehäuft an unangenehmen
Gefühlen wie Angst, Ekel oder
Niedergeschlagenheit, er erlebt sich in seinem
täglichen Leben als überfordert oder zeigt ein
Verhalten, das ihm selber oder anderen als
»nicht normal« vorkommt. Dabei können andere
Bereiche seines Innenlebens und seines
Verhaltens davon völlig unbetroffen sein. Tritt
ein solcher Fall zeitweilig ein, so sprechen wir
von einer seelischen Störung oder von einer
psychischen Erkrankung. Die meisten sind
übrigens vollständig zu heilen, wie bestimmte
körperliche Erkrankungen auch, ja in einigen
Fällen verschwinden sie von selber, d.h. ohne
gezielte professionelle Hilfe. Man könnte sagen,
der Mensch hat seine Krise überwunden, oder
auch: Das Leben als solches, oft in Form von
menschlichen oder anderen günstigen Umständen,
hat ihn geheilt. In anderen Fällen bedarf es
einer gezielten Hilfe, etwa in Form einer
Therapie.
Sind auch bei
Zwangserkrankungen Teile des Körpers zerstört?
Sind meine Nerven kaputt? Ist mein Gehirn ganz
oder teilweise außer Funktion gesetzt?
Alles, was sich beim Menschen im
Erleben und in dem Verhalten abspielt, hat auch
eine Beziehung zu seinem Körper, besonders zu
dem Gehirn. Man spricht deshalb auch von der
Leib-Seele-Einheit.
Vorweg: Kein Teil Ihres Körpers ist zerstört,
Ihre Nerven sind nicht kaputt und Ihr Gehirn ist
nicht außer Funktion gesetzt. Es wurde lediglich
festgestellt, dass mit der Zwangserkrankung
bestimmte ungewöhnliche Prozesse im Gehirn
einhergehen. So ist der Stoffwechsel in einem
bestimmten Teil deutlich erhöht. Das zeigt an,
dass dort eine vermehrte Aktivität stattfindet.
Diese Gehirnanteile sind verantwortlich für
uralte Verhaltens- und Denkmuster, die im
Wesentlichen dem Schutz und der Absicherung
dienen. Auch Kontrollmechanismen anderer
Gehirnteile, die diese älteren Zentren dämpfen
und in ihrer Auswirkung auf das Erleben
sozusagen »an der Kandare halten«, verlaufen
nicht optimal. Insofern haben auch Zwänge eine
gewisse Basis in unserem Gehirngeschehen, wie
übrigens jedes andere menschliche Erleben auch.
Doch die meisten anderen Abläufe verlaufen auch
bei Zwangskranken völlig normal.
Interessanterweise haben Forscher
herausgefunden, dass die Unregelmäßigkeiten im
Gehirn voll rückgängig zu machen sind, z.B.
durch eine erfolgreiche Verhaltenstherapie.
Leide ich an einer
Geisteskrankheit? Bin ich verrückt oder dabei,
es zu werden?
Solche Fragen drücken eine tief
greifende Verunsicherung bezüglich des eigenen
Zustandes und der eigenen Zukunft aus. An der
Stelle dürfen wir Sie mit gutem Gewissen
beruhigen. Zwangserkrankungen werden nicht zu
den »Geisteskrankheiten«, den so genannten
Psychosen, gerechnet und bilden auch kein
Vorläuferstadium dazu. Beide Störungen sind
völlig voneinander unabhängig. Wenn Sie an einer
Zwangsstörung leiden, sind Sie also nicht
verrückt und auch nicht dabei, es zu werden.
Kann ich heiraten, Kinder in
die Welt setzen, einen normalen Beruf ausüben? Bin ich
überhaupt noch zurechnungsfähig?
Sie sind voll zurechnungsfähig und
können ein ganz normales Leben führen, siehe
oben.
Nur manchmal merken Sie, dass die Zwangsgedanken
und -handlungen Sie dabei stören, sowohl bei
Ihren Beziehungen wie auch bei der Arbeit. Die
Hartnäckigkeit, mit der Ihre Erkrankung Sie
»zwingt«, falsche Ziele kurzfristig zu
verfolgen, erweist sich manchmal als sehr
störend. Insofern kann die Zwangskrankheit ein
Erschwernis bilden, und es ist um so wichtiger,
dass Sie etwas dagegen unternehmen.
Ich fühle mich oft so
zerrissen.
Auf der einen Seite muss ich bestimmte Dinge
denken und tun, auf der anderen Seite finde
ich sie oft geradezu unsinnig.
Bedeutet das nicht, dass ich eine »gespaltene
Persönlichkeit« bin, d.h. schizophren?
Zwangserkrankungen sind keine Form
der Schizophrenie. Beide Krankheiten sind völlig
voneinander unabhängig. Das Gefühl der inneren
Zerrissenheit drücken viele Betroffene in der
einen oder anderen Form aus.
Es betrifft einmal das, was Sie eben gesagt
haben: Auf der einen Seite die Gedanken und die
Handlungen, von denen Sie glauben, sie denken
und sie tun zu müssen.
Auf der anderen Seite haben Sie eine mehr oder
weniger große Distanz dazu, d.h. Sie erleben sie
als übertrieben oder gar als unsinnig.
Sie sind sozusagen gezwungen, gleichzeitig in
zwei Welten zu leben und sie unter einen Hut zu
bringen: Auf der einen Seite das normale Leben
mit seinen Aufgaben und Anforderungen, auf der
anderen Seite das, was Ihre Krankheit, d.h. was
der Zwang Ihnen auferlegt.
Je nach der Situation tritt die eine oder die
andere Seite mehr in den Vordergrund.
Sie haben dann den Eindruck, dass Sie eine
»gespaltene Persönlichkeit« sind, aber das hat
nichts mit einer Geisteskrankheit zu tun,
sondern ist ein ganz normales Empfinden, das
Ihre schwierige Lage wiedergibt.
Was ist denn nun eine
Zwangserkrankung?
Die wichtigsten Merkmale von
Zwangserkrankungen nach den international
anerkannten Diagnosekriterien (ICD 10) sind:
• Zwangsgedanken oder
Zwangshandlungen (oder beides) erfolgen so gut
wie jeden Tag über einen Zeitraum von mindestens
zwei Wochen.
• Die Zwangsgedanken werden von
Betroffenen als die eigenen angesehen. Sie haben
nicht den Eindruck, dass sie ihnen von anderen
Personen oder von äußeren Einflüssen vorgegeben
werden.
• Die Zwangsgedanken oder -handlungen
treten ständig wieder auf. Sie werden als
störend und als unangenehm empfunden. Es besteht
eine gewisse innere Distanz dazu, die von
Situation zu Situation schwanken kann. In
ruhigen Momenten werden sie als völlig sinnlos
anerkannt.
• Der Betroffene versucht Widerstand
gegen die Zwangssymptome zu leisten, ist dabei
aber meist nicht erfolgreich.
• Der Betroffene leidet an den
Symptomen. Er wird in seinem Sozialleben und in
seiner Leistungsfähigkeit gehindert, z.T. auch
deshalb, weil der Zwang einen hohen zeitlichen
Aufwand verlangt.
Ich fühle mich manchmal so
niedergeschlagen, geradezu depressiv. Wird das
immer so sein oder schlimmer werden?
Ein großer Teil der Zwangskranken
leiden sehr häufig an depressiven Verstimmungen.
Sie sind teilweise ein Ergebnis der
vielen Verzichte, die der Zwang im täglichen
Leben auferlegt, und der Freudlosigkeit, die
dadurch entsteht.
Zum anderen fühlen sie sich häufig erschöpft und
haben das Gefühl, den ständigen Anforderungen,
die die Zwangserkrankung mit sich bringt, nicht
mehr gewachsen zu sein. Sie glauben dann, nie
mehr ein befriedigendes Leben führen zu können,
und das kann zur Niedergeschlagenheit bis zur
seelischen Depression führen.
Die Stimmung bessert sich dann, wenn die
Zwangserkrankung sich bessert, in einigen Fällen
muss die Depression gesondert medikamentös oder
psychotherapeutisch behandelt werden.
Ich habe manchmal das Gefühl,
nicht mehr richtig zu leben und wie ein
Automat durch die Gegend zu laufen. Warum ist
das so?
Diese Empfindung haben viele
Zwangskranke.
Sie ist ein integraler Bestandteil der Störung.
Es ist das Gefühl innerlich wie leer oder
zumindest blockiert zu sein, mit einem Wort,
keine ganze voll lebendige Person zu sein. Wir
nennen diesen von den Betroffenen erfundenen
Zustand auch »Depersonalisation«. Manchmal kommt
ihnen auch die Umgebung, in der sie sich gerade
bewegen, als irreal, unscharf und unwirklich
vor. Dann sprechen wir von »Derealisation«.
Diese Empfindungen entstehen zum Teil dadurch,
dass normale Gefühle nicht mehr voll zur
Entfaltung kommen, weil sie immer wieder
überlagert werden durch die »falsche Ordnung«,
die durch die Unterwerfung unter die die Diktate
des Zwanges kurzfristig entsteht.
Diese Krankheitsempfindungen werden in dem Maße
zurückgehen, wie es gelingt, den Zwang
abzubauen. Wichtig dabei ist: Betroffene haben
die Fähigkeit, sich wieder voll lebendig und die
Welt als reich und bunt zuempfinden, nicht ein
für alle mal verloren, sondern sie kommt
letztlich zeitweilig nicht zur Entfaltung.
Ich fühle mich oft so
unsicher, auch im Zwang, z.B. beim
Kontrollieren oder beim Waschen. Ich weiß dann
nicht, ob ich etwas wirklich getan habe oder
ob ich es mir eingebildet habe, oder ich habe
das Gefühl, etwas »nicht richtig« getan zu
haben. Können Sie das verstehen?
Auch hier sprechen Sie eines der
Zentralphänomene der Zwangserkrankung an.
Diese Empfindung wurde zum ersten Mal von dem
großen französischen Psychologen Pierre Janet
(1859-1947) beschrieben. Wir nennen sie
»Unvollständigkeitsgefühl«. Die Betroffenen
haben die Empfindung, dass ihre seelischen
Aktivitäten bis hin zum Verhalten
»unvollständig« sind, und sie haben je nach
Situation viele Beschreibungen und Bilder, um
dieses Gefühl auszudrücken. Ihnen allen ist die
Klage gemeinsam, dass sie in kritischen
Situationen kaum etwas, was sie tun, denken oder
fühlen, als ganz und vollständig empfinden. Es
fehlt immer etwas, das ihnen die Sicherheit
vermitteln würde, dass der entsprechende Akt -
etwa die Kontrolle eines Haushaltsgerätes oder
ein Waschvorgang - als vollendet oder
abgeschlossen gelten kann. Das quält sie
permanent und ist in schweren Fällen einer der
Motoren für die Übertreibungen und
Entgleisungen, die für die Zwangserkrankung
typisch sind.
Dann sind besondere therapeutische Maßnahmen
dagegen unentbehrlich.
Ich denke oft Dinge, über die
ich kaum zu sprechen wage. Bin ich verrückt,
von Grund auf schlecht, eine potentielle
Selbstmörderin oder eine Kriminelle?
Hier sind wir bei einem der
wichtigsten Bestandteile jeder Zwangsstörung
angekommen, dem zwanghaften Denken.
Es kann zwei Formen annehmen. Einmal das
Zwangsgrübeln, das richtiggehend in Form von
Anfällen auftreten kann.
Um Ihnen zu zeigen, dass solche Phänomene, die
Ihnen außergewöhnlich und einzigartig vorkommen,
schon seit längerer Zeit sehr gut bekannt sind,
möchten wir Ihnen ein Beispiel Pierre Janets
schildern, das das Grübeln einer Frau in einer
ganz einfachen Situation wiedergibt.
An einem Donnerstag Nachmittag
denkt sie daran, das Abendessen vorzubereiten,
und nimmt einen Topf um unten im
Lebensmittelgeschäft für einige Pfennige
Fleischbouillon einzukaufen. Sie hält auf der
Treppe inne. Ihr kam der Gedanke, dass man
einen Moment darüber nachdenken muss, ob es
nichts Schlimmes daran gibt, heute im Geschäft
Bouillon einzukaufen. Normalerweise nicht,
sagt sie sich, aber heute ist Donnerstag. Das
darf man nicht außer Acht lassen: Was wird die
Geschäftsfrau denken, wenn ich heute Bouillon
bei ihr einkaufe? Wenn sie glaubt, dass ich
heute Abend daraus eine Suppe zubereiten will,
so ist das nicht schlimm. Aber man könnte ja
auch vermuten, dass sie sich etwas anderes
dabei denkt. Sie könnte z.B. denken, dass ich
morgen eine Suppe kochen will und morgen ist
Freitag, also ein fleischloser Tag. Wenn sie
das denkt, wird sie empört sein. Das ist ja
immer so. Ich gebe leider immer ein schlechtes
Beispiel. Wenn ich daran schuld bin, dass die
Händlerin das annimmt, dann habe ich eine
Handlung begangen, die vielleicht an sich
nicht so schlimm ist, die aber schrecklich
wird durch ihre Bedeutung. Denn das heißt,
dass ich den lieben Gott zum Narren halte. Das
ganze Problem besteht also darin, zu klären,
ob die Händlerin glaubt, ob ich meine Bouillon
heute oder morgen esse. Wie könnte ich diese
Frage entscheiden? Ich könnte nachdenken, ob
ich noch genügend in meiner Speisekammer habe,
um mir heute eine Suppe vorzubereiten. Das
letzte Mal, als ich sie gesehen habe, also
gestern morgen, habe ich da irgendwelche
Hinweise darauf gegeben, dass ich genügend zu
Hause hätte, um mir heute, Donnerstag, eine
Suppe daraus zu bereiten? Was habe ich ihr
also gestern genau gesagt?
Nun grübelt sie endlos darüber nach, was sie
gestern zur Händlerin gesagt hat, aber die
Erinnerung daran ist nicht klar genug, und sie
sagt sich schließlich, »wenn die Händlerin
mich also gestern böse angeschaut hat, dann
muss ich ihr gestern etwas sehr Ausgefallenes
gesagt haben. Nun muss ich klären, ob die
Händlerin mich gestern böse angeschaut hat
oder nicht. Und das fällt mir sehr schwer. Mit
letzter Genauigkeit kann ich das nicht klären.
Das Beste wäre also, meinen Mann um Rat zu
fragen. Aber der Mann wird antworten, und das
ist sicher, du gehst mir auf die Nerven mit
deinem Freitag, und das einzige Ergebnis wird
wiederum sein, dass ich dem Mann die
Gelegenheit gegeben habe, schlecht über den
lieben Gott zu reden. So ist das. Ich sorge
immer für Skandale. Was bin ich doch für ein
schreckliches, kriminelles Wesen. Wenn ich nur
nicht ständig irgendein Verbrechen begehen
müsste und wenn Gott mir helfen würde, nicht
mehr solche Skandale in die Welt zu setzen,
dann würde ich ihm alles versprechen, was er
will. Aber wenn Gott von mir verlangen würde,
dass ich meine kleine Tochter umbringe – er
hätte das Recht dazu, da es das Kind einer
Verbrecherin ist und damit eine Verbrecherin
selber – ist es besser, weiter Skandale in die
Welt zu setzen oder damit einverstanden zu
sein, meine kleine Tochter mit einem
Küchenmesser zu erdolchen ...?«
Man ahnt das Ende der Geschichte.
Drei Stunden danach kommt der Mann nach Hause
und findet die Frau auf der Treppe, den leeren
Topf in der Hand. Sie konnte sich nicht dazu
entschließen, weder
dazu, ins Geschäft zu gehen, noch dazu, nach
Hause zu gehen und etwas anderes zu kochen.
In einem solchen inneren Monolog,
der, wie es deutlich wird, der Reihe nach alle
Themen der Absicherung und der Wiedergutmachung
herunterbetet, stellt sich die permanente innere
Qual von Menschen dar, die auf dem Hintergrund
ihrer allgegenwärtigen Sorge eine enorme mentale
Arbeit verrichten, aber damit nirgendwo
ankommen. Diese Art von Zwangsvorgängen kann den
Zustand der Kranken derart prägen, dass sie die
Form von Persönlichkeitsmerkmalen annehmen, die
alle Episoden des Lebens durchdringen..
Wie Sie sehen, werden von der betroffenen Frau
die Themen: Mache ich etwas falsch? Ist es
möglich, dass ich versage? Was werden die
anderen denken? Wie kann ich mich absichern?
endlos wiederholt, ohne dass sie zu einem klaren
und beruhigendem Ergebnis kommt. Das ist typisch
für Zwangsgrübeleien, die, wie wir am Beispiel
gesehen haben, die merkwürdigsten Formen
annehmen können.
Die andere Variante des zwanghaften Denkens sind
Zwangsgedanken im engeren Sinne. Wir haben sie
besonders am Beispiel von Gisbert kennen
gelernt.
Zwangsgedanken nehmen inhaltlich gesehen immer
eine außerordentlich extreme Form an. Sie sind
so angelegt, dass das, was einem das Heiligste
und Teuerste ist, verletzt und vernichtet zu
werden droht. Genau genommen sind sie immer in
Form von Fragen gekleidet, meist an sich selbst
aber auch an andere: Könnte es sein, dass ich
plötzlich so die Kontrolle über mich verliere
und mich ohne es zu wollen umbringe? Ich fühle
mich so eigenartig, könnte es sein, dass ich
mich so vergesse, dass ich meinem Kind
absichtlich schade? usw. In Wirklichkeit haben
Zwangsgedanken zum Ziel, einen Suchprozess
einzuleiten, der zu dem Ergebnis führt, dass ich
das Schreckliche nicht tun werde, aber der
Prozess ist sehr mühsam und das gewünschte
Ergebnis stellt sich sehr schlecht ein.
Gibt es die reale Gefahr, dass ich
die schrecklichen Dinge, die mir durch den Kopf
gehen, auch wirklich tue?
Die Antwort ist : Nein.
Ich werde sie im Teil über Selbsthilfe noch
begründen.
Manchmal habe ich Erlebnisse, die
sicher kein Mensch verstehen würde. So das
absurde Empfinden, dass ich nicht ganz bin, dass
etwas an mir fehlt usw. Haben auch andere
Menschen solche Gefühle?
Denken Sie zuerst an das, was wir
über Unvollständigkeitsgefühle gesagt haben.
Solche Empfindungen können eine extreme Form
annehmen, so dass der Betroffene selbst sie
nicht versteht und sich nicht traut, jemandem
seine Erlebnisse mitzuteilen, unter Umständen
auch nicht seinem Therapeuten.
Um Ihnen zu zeigen, dass Sie auch damit nicht
allein sind, möchte ich Ihnen den Bericht eines
meiner Patienten zur Kenntnis bringen:
»Ich habe mich eben angezogen, um das
Haus zu verlassen, und will einen letzten Blick
in den Spiegel werfen. Alles in Ordnung, aber
dann fängt es an. Ich bleibe wie angewurzelt
stehen und kann nicht weg. Was ist es? Es fehlt
etwas. Ich schaffe es nicht, mich einheitlich,
ganzheitlich zu spüren. Es fehlt etwas.
Unter dem Einfluss dieser Gefühle fange ich an,
mich zu fragen, kann es sein, dass etwas nicht
abgeschlossen ist, habe ich etwas nicht ganz
oder richtig gemacht? Mansch-Mal versuche ich
mich genau zu erinnern, aber es fällt mir meist
kein mögliches Versäumnis ein. Das Gefühl
bleibt.
Ich erreiche mich selber nicht auf
eine zufrieden stellende Art und Weise. Es fehlt
etwas. Dann wird mir bewusst, dass ich ja vor
dem Spiegel stehe. Dann kommt mir der Gedanke,
vielleicht bist du nicht ganz aus dem Spiegel
herausgekommen. Ich muss gestehen, dass ich mir
in einem solchen Augenblick kaum vor Augen
führe, wie hirnrissig dieser Gedanke ist. Ja,
ich habe sogar erlebt, dass beim nächsten Mal
vor dem Spiegel der Gedanke mir ganz schnell und
automatisch gekommen ist. Was soll ich tun? Ich
versuche, ganz richtig aus dem Spiegel
herauszukommen, respektive das Gefühl dafür zu
bekommen. Was soll ich auch anderes tun?«
Sie sehen, auch mit solchen Erlebnissen stehen
Sie nicht allein da und sie bilden auch immer
noch das Symptom einer Zwangserkrankung.
Selbsthilfe:
10
Grundregeln für Betroffene
Viele Jahre Arbeit mit Betroffenen haben mich
gelehrt, dass sie keine Wunder vollbringen
können. Die Möglichkeiten, die sie haben, sich
selber zu helfen, variieren von Fall zu Fall und
Mensch zu Mensch.
Dennoch scheint es so etwas wie 10 Grundregeln
zu geben, die sich bei nahezu allen Betroffenen
im Umgang mit der Zwangserkrankung als nützlich
erwiesen und die längerfristig eine Besserung
fördern.
Grundregeln der Selbsthilfe im Umgang
mit der eigenen Zwangserkrankung
Besinnen Sie sich auf Ihre Stärken und
Ressourcen.
Erkennen Sie Ihren Feind.
Beobachten Sie ihn, kommen Sie ihm auf die
Schliche und lernen Sie ihn immer besser kennen.
Fangen Sie an, andere Menschen mit neuen Augen
zu beobachten.
Stellen Sie dem Zwang Fragen, halten Sie nichts
von dem, was er von Ihnen verlangt, für
selbstverständlich und geben Sie nicht mehr
automatisch nach.
Fordern Sie ihn heraus und experimentieren Sie
mit ihm.
Zwingen Sie sich, zwanghafte Gedanken und
Befürchtungen immer konkreter werden zu lassen.
Lernen Sie immer besser die gegenwärtige
Wirklichkeit zu überschauen und werden Sie immer
stärker zum Subjekt kritischer Situationen.
Lassen Sie andere Menschen möglichst aus ihren
Zwängen heraus.
Durchbrechen Sie Ihre Isolation. Wir möchten die
einzelnen Punkte hier kurz erläutern:
1. Besinnen Sie sich auf Ihre
Stärken und Ressourcen.
Sie haben sicherlich manchmal das
Gefühl, Sie bestehen nur noch aus Ängsten,
Zweifeln und Unsicherheit und sind gezwungen,
wie eine Marionette zu agieren. Das können Sie
dann endlos bedauern mit dem Effekt, dass Sie
immer mehr verzagen und jeden Lebensmut
verlieren.
Bald wird die Zukunft Ihnen nur noch wie ein
großes Fragezeichen oder aber, im schlimmsten
Fall, wie ein schwarzes Loch vorkommen.
In solchen Momenten können Sie aber auch
»umschalten« und sich auf die positiven Aspekte
des Lebens besinnen: Welche Menschen brauchen
mich und wie kann ich ihnen helfen? Wer ist für
mich da, wie kann ich es ihm danken und meine
Beziehung zu ihm noch verbessern? Was ist mir
über alles lieb und teuer, was macht mir Mut
oder heitert mich auf?
Was kann ich besonders gut, wie kann ich meine
Stärken und Fertigkeiten ausbauen und zur
Geltung bringen? Was macht mir Hoffnung und wie
kann ich meinem Ziel, ein besseres und
erfüllteres Leben zu führen, ein Stück näher
kommen
Für Zwänge wie für jede andere Schwierigkeit
gilt: Sie machen nie das ganze Leben aus; es
gibt auch die andere Seite der Medaille.
Je mehr ich mich auf mein Problem konzentriere,
desto mehr verstellt es mir die Sicht, und die
daraus resultierende Stimmung ist auch für eine
Auseinandersetzung mit dem Problem im engeren
Sinne keineswegs förderlich.
2. Erkennen Sie Ihren Feind.
Der Zwang ist meist durch ein
unglückliches Zusammenspiel äußerer und innerer
Faktoren entstanden und stellte
zum Zeitpunkt seiner Entstehung eine wenn auch
höchst unbefriedigende Art dar, mit der
Gesamtlage umzugehen.
Diese Funktion hat er teilweise noch heute. Er
stellt eine Art Kompromiss dar zwischen einer
reifen und differenzierten Art, mit der dunklen
Seite des Lebens umzugehen einerseits, und der
totalen Resignation anderseits. Zwangskranke
kämpfen noch, aber die Mittel, auf die sie sich
fixiert haben, sind weitgehend untauglich und
richten langfristig mehr Schaden an, als sie
helfen.
Um den inneren Zwiespalt, in dem sich
Zwangskranke befinden, wenigstens etwas zu
reduzieren, ist die Versuchung groß, den Inhalt,
den der Zwang vorgibt, zu rechtfertigen, zu
verteidigen, ja manchmal geradezu zu
idealisieren.
Es kommt dann zu einer merkwürdigen Haltung der
Betroffenen, die man etwa folgendermaßen
wiedergeben kann: Sie sind davon überzeugt, dass
ihre Lage einzigartig ist. Man kann beim besten
Willen nicht sagen, dass alles in Ordnung sei,
wir haben Schwierigkeiten, und deshalb wollen
wir ja etwas verändern. Aber eine einfache
Krankheit, die man einigermaßen durchschauen und
über die man überall nachlesen kann, haben wir
nicht.
Es ist alles komplizierter. Das Ziel kann nicht
darin bestehen, so zu werden wie alle anderen
auch. Auf der einen Seite wissen wir nicht
genau, wie wir sind, und wir wollen es in
Wirklichkeit auch gar nicht so recht wissen.
Diejenigen, denen wir im täglichen Leben
begegnen, sind wahrlich keine erstrebenswerten
Vorbilder, etwa bei ihrer Art, Verantwortung
wahrzunehmen, ihre Dinge in Ordnung zu bringen
oder die elementaren Regeln der Hygiene
einzuhalten. Ein Urteil müssen sie sich allemal
gefallen lassen: Sie sind oberflächlich und
machen es sich leicht. Das kann es auch nicht
sein.
Auf der anderen Seite übertreiben wir vielleicht
ein wenig und machen es uns schwer. Wo liegt die
Wahrheit?
Was ist richtig? Keiner kann die einzigartig
schwierige Situation, in der wir uns befinden,
je verstehen, davon sind wir überzeugt.
Diese zerrissene, zwiespältige Haltung ist bei
allen Betroffenen nachweisbar. Sie scheint sie
etwas zu beruhigen, damit sie nicht zugeben
müssen, dass die Krankheit sie auf den ganz
falschen Weg geführt hat.
Wie gehen sie dabei vor:
Sie versuchen, zwanghaftes Denken durch Werte,
die gesellschaftlich hoch angesehen sind, zu
rechtfertigen. Diese Operation hat letztlich zum
Ziel, die Kluft zwischen den konventionellen
Lebensregeln und den ganz besonderen des Zwanges
zu überbrücken. Sie wird dadurch begünstigt,
dass die Vorstellungen, die in der
Zwangserkrankung auftauchen, von vornherein
einen Hauch von Plausibilität haben.
Beim Verlassen einer Wohnung kann ein
Haushaltsgerät in Betrieb bleiben, und das birgt
potentiell die Möglichkeit eines Schadens, trotz
moderner Sicherheitsmaßnahmen. Es gibt die
Möglichkeit, sich draußen mit einer Krankheit
anzustecken, und beim Autofahren kann ein
fremder Mensch verletzt werden oder gar zu Tode
kommen. Wenn unendliche Kontrollen bei
Haushaltsgeräten vorgenommen werden oder auf das
Autofahren verzichtet wird, so ist es für den
Zwangskranken relativ einfach, sein von der
Krankheit diktiertes Vorgehen als Ergebnis einer
übersteigerten Hingabe an Werte wie
Verantwortungsgefühl, Vorsicht und
Ernsthaftigkeit im Umgang mit den Dingen des
Lebens auszugeben. Auch Hygienevorschriften,
Sorgen (wenn auch übertriebene) um die eigene
Gesundheit, aber vor allem um die der anderen,
eignen sich vortrefflich für denselben Zweck.
Doch ich hoffe, wir haben gesehen, dass die
Symptome einer Zwangserkrankung nicht an sich
vernünftige, wenn auch übertriebene
Vorsichtsmaßnahmen darstellen, die dem Leben an
sich förderlich sind.
Eine Zwangserkrankung ist etwas ganz anderes.
An der Stelle kann einem Betroffenen nur eine
möglichst große Ehrlichkeit mit sich selber
weiterhelfen. Sein Feind ist nicht eine zu
oberflächliche Gesellschaft, es sind auch nicht
»die anderen«, der Feind steckt in einem selber.
Es ist der Zwang, bestehend aus irrationalen
Befürchtungen und Gefühlen und den Mitteln, die
dagegen ein-gesetzt werden: Zwangshandlungen
jeglicher Art.
Sie sind es, die in Wirklichkeit das
Leben bedrohen!
3. Beobachten Sie ihn, kommen
Sie ihm auf die Schliche und lernen Sie ihn
immer besser kennen.
Statt das zu ignorieren, zu
verdrängen oder gar noch verteidigen zu wollen,
was einem schadet, einem selbst und anderen Leid
zufügt, sollte man es möglichst kennen lernen,
um die eigene Chance zu verbessern, immer besser
Widerstand leisten zu können, mit dem Ziel, es
schließlich zu überwinden.
Jeder Betroffene denkt, dass er die eigenen
Probleme, die mit dem Zwang verbunden sind, zur
Genüge, ja nur allzu gut kennt.
Dem müssen wir aus Erfahrung widersprechen.
Vieles von dem, was in kritischen Situationen
abläuft, läuft quasi automatisch ab, d.h. auf
einer sehr niedrigen Bewusstseinsstufe.
Vieles andere, was Sie im Rahmen des Zwanges
denken oder tun, erscheint Ihnen so
selbstverständlich, dass Sie es gar nicht mehr
groß zur Kenntnis nehmen.
Fangen Sie an, bestimmte Denk- und
Verhaltensabläufe ganz bewusst zu beobachten:
Wann fängt es genau an? Gibt es bestimmte
Anstöße von außen wie die Begegnung mit einem
Menschen, der Ihnen »schmuddelig« erscheint?
Folgt unmittelbar danach ein Gedanke wie: »Der
könnte mit Aids infiziert sein«, oder ein Gefühl
etwa des Ekels oder der Angst?
Wie sind Ihre ersten Reaktionen?
Fangen Sie an sich selber zu überwachen, z.B. um
zu vermeiden etwas zu berühren, was die Person
angefasst hat? Nehmen Sie sich vor, zu Hause ein
besonderes »Vorsichtsreinigungsprogramm« zu
absolvieren? Wie verändert sich Ihr Gefühl im
Lauf der nächsten Zeit?
Wie sehen Ihre Reinigungsrituale vornehmlich
aus?
Wie gehen Sie genau vor, wenn Sie die Hände
waschen? Welche Auswirkungen hat es auf Sie?
usw.
Oder : Registrieren Sie ganz exakt, wie Ihr
Kontrollprogramm aussieht, bevor Sie die Wohnung
verlassen? Was kontrollieren Sie alles? Wie viel
Zeit dauert der Gesamtvorgang? Wie genau sieht
die Kontrolle der Wasserhähne aus? Welche
Bewegungen führen Sie dabei aus? Was denken Sie,
wenn Sie sehen: Es läuft doch kein Wasser aus
den Hähnen?
Trauen Sie dabei Ihren Augen? Welche Gefühle
haben Sie dabei? Was muss sich einstellen, damit
Sie einen bestimmten Teil abschließen?
Welche Gedanken folgen unmittelbar danach?
Welche Gefühle? usw.
Welche Zwangsgedanken und -handlungen ereignen
sich im Laufe eines Tages? Wann kommen Sie
besser zu-recht und wann nicht?
Auf diese Art werden Sie das Ausmaß, das der
Zwang angenommen hat, besser überschauen.
Sie werden Aspekte kennen lernen, wie
Unvollständigkeitsgefühle bei Kontrollen oder
Rückzugs- und Vermeidungsreaktionen, die Ihnen
schon gar nicht mehr auffallen.
Erschrecken Sie nicht und werden Sie nicht
verzagt, wenn sie feststellen, dass die
Zwangssymptome noch zahlreicher und
komplizierter sind, als sie vermutet hätten. Die
Voraussetzung für eine Besserung ist, dass Sie
sich dem ganzen Zwangskomplex stellen, ihn noch
genauer kennen lernen. Seien Sie ehrlich zu sich
selber, dass ist die unabdingbare Voraussetzung
für jeden Fortschritt. Fangen Sie an, andere
Menschen mit neuen Augen zu beobachten.
Vielleicht haben Sie sich bislang
wenig dafür interessiert, wie andere Menschen,
auch solche, die Sie schätzen und mögen, sich in
bestimmten Situationen verhalten, die für Sie
ein großes Problem darstellen.
Sie mögen denken: Das betrifft mich nicht, die
sind ja gesund, oder vielleicht: Ich lebe in
meiner Welt, die der anderen geht mich nichts
an. Oder sogar: So wie die anderen möchte ich
gar nicht sein.
Aber das Wahrscheinlichste ist: Sie wissen nicht
genau, was die anderen denken und wie sie
bestimmte Dinge tun, obwohl Sie das ja
feststellen könnten.
Beobachten Sie einmal genau, wie der Bürokollege
seinen Schreibtisch abschließt und wie die
Freundin ihre Hände wäscht, bevor sie zu Tisch
geht. Die Betonung, Sie werden es gemerkt haben,
liegt auf dem Wie: Wie macht sie es, wie hält
sie die Hände unter das Wasser, wie genau seift
sie sich ein? usw.
Fragen Sie ruhig einmal jemanden: Was geht dir
durch den Kopf, wenn du hörst, wie Lebensmittel
behandelt werden? Was machst du, um dich und
deine Familie einigermaßen zu schützen? Warum
erscheint dir das ausreichend?
Oder: Wie machst du es, wenn du die Wohnung in
der Früh verlässt, um an die Arbeit zu gehen?
Dann vergleichen Sie Ihre Vorgehensweise mit der
der anderen.
Das Ganze sollte nicht dazu führen, dass Sie
sich verrückt oder minderwertig vorkommen,
sondern dazu ,dass Sie das, was Sie tun und wie
Sie es tun, nicht mehr für selbstverständlich
oder für das einzig Mögliche halten.
Beobachten Sie erst mal nur, fragen Sie an der
einen oder anderen Stelle nach oder vergleichen
Sie. Dann können Sie anfangen, sich Ihre
Gedanken zu machen.
4. Stellen Sie dem Zwang Fragen, halten
Sie nichts von dem, was er von Ihnen verlangt,
für selbstverständlich und geben Sie nicht
mehr automatisch nach.
»Dem Zwang stellt man keine Fragen,
vor allem nicht die Frage, warum er uns zwingt,
die Welt auf eine ganz einseitige Art zu sehen,
in der Gefahren, Schmutz, Ekliges und Böses
allgegenwärtig sind«, bemerkte einmal eine
Patientin.
Mit dem Zwang diskutiere man nicht, meinen
andere. Dieses Verbot zu durchbrechen, und sei
es nur am Anfang an der einen oder anderen
Stelle, ist ein ganz wichtiger Schritt für alle
Betroffenen.
Sie befinden sich in einem öffentlichen
Verkehrsmittel und nehmen die Mitbenutzer gleich
bei Ihrem Einstieg als undifferenzierte,
feindselige Masse von möglichen Trägern von
Schmutz und Ansteckendem wahr und ziehen sich
reflexartig in sich selber zurück: Nur nie
jemanden berühren, nur nirgendwo rankommen, den
eigenen Körper, die Kleidung schützen, vor allem
nichts nach Hause einschleppen, wo alles rein zu
sein hat.
Sie verharren in der Haltung, sind überwachsam
und aufmerksam, angespannt und fixiert auf die
Gefahren und das Eklige, die der Zwang ihren
Gedanken aufdrängt. Ihr ganzes Verhalten, Ihr
Denken und Fühlen wird von dieser einseitigen
Art, die Situation zu erleben, diktiert, seit
die Krankheit ausgebrochen ist, und Sie stellen
diese Art die Dinge wahrzunehmen gar nicht mehr
in Frage.
War das immer so? Versuchen Sie sich an die Zeit
vor dem Ausbruch der Zwangserkrankung zu
erinnern: Wie haben Sie die Welt damals erlebt?
War sie nicht bunter, vielfältiger, in einem
Wort menschlicher? Fühlten Sie sich damals nicht
freier, entspannter, mehr als Herr der Lage? Mit
Sicherheit.
Und warum ist es plötzlich, seit dem Beginn des
Zwanges, so anders?
Wieso erscheint es so definitiv anders?
Ist es, weil Sie alles in allem klüger,
weitsichtiger, vorsichtiger, sich
allgegenwärtiger Gefahren des Lebens stärker
bewusst geworden sind? Ist es wirklich so, dass
Sie durch die ganze Entwicklung gewonnen haben,
dass Sie sich größer und selbstbestimmter
fühlen, dem Leben voll ins Auge zu sehen?
Wenn Sie ehrlich sind, werden Sie zugeben, dass
dem nicht so ist. Würden Sie so denken, so
würden Sie Ihren ärgsten Feind verteidigen.
Wenn Sie ernsthaft Ihrem Gefühl nachsinnen, dann
fühlen Sie sich keineswegs stärker, sondern
klein und hilflos, wie ein Kind ausgeliefert an
tausend Regeln, Gebote und Verbote, die den
Zwang ausmachen.
Ich möchte an dieser Stelle keine
»Dämonenbeschwörung« empfehlen, aber fragen Sie
den zwanghaften Anteil in Ihnen, also den Zwang
einmal ganz ruhig: Warum ist das jetzt so? Warum
muss ich die Welt so erleben und nicht mehr so
wie noch vor zwei Jahren? Warum kann ich nicht
so Autobus fahren wie alle anderen auch: Der
eine liest Zeitung, diese beiden Jugendlichen
unterhalten sich angeregt, die ältere Dame
schaut entspannt zum Fenster heraus. Warum ist
das bei mir ganz anders?
Als eine meiner Patientinnen zum ersten Mal
anlässlich einer Autobusfahrt anfing, derlei
verbotene Warum-Fragen zu stellen, um alles
nicht mehr als selbstverständlich hinzunehmen,
erhielt sie eine »Antwort«, die sie sehr
erschütterte: Ich will dich klein und hilflos
sehen, ich bin stark, du bist nichts.
Sie hörte nicht plötzlich »Stimmen«, sie behielt
die ganze Zeit ihr normales Bewusstsein und war
nicht plötzlich »verrückt« geworden. Im
Gegenteil: Zum ersten Mal nahm sie die Dinge,
die von ihr verlangt wurden, nicht mehr
automatisch hin, so als sei dies das einzig
Mögliche und Sinnvolle.
Das heißt zum ersten Mal seit
längerer Zeit war sie sich ihrer Lage bewusst.
Sie war sozusagen auf einer höheren
Bewusstseinsstufe, verglichen mit ihrem üblichen
Zustand, der ganz vom Zwang beherrscht wurde.
Als sie sich von dem ersten Schreck und der
anschließenden Traurigkeit, die die
»Antwort«auslöste, erholt hatte, fing sie an,
sich diese Fragen immer öfter zu stellen, und
erlebte etwas, das sie schon lange nicht mehr
kannte: Sie fing an, in zunehmendem Maße sich
innerlich aufzulehnen, und verspürte einen immer
größeren Widerwillen gegen die einseitigen
Botschaften des Zwanges.
Sie fühlte sich mit der Zeit ihm gegenüber
flexibler. Es traten Erinnerungen auf an den
Vater, der ihr ständig eine ähnliche
»Lebensphilosophie« vermittelt hatte (»pass
auf«, »überall lauern Gefahren«, »die Welt ist
schlecht, dreckig«, »du schaffst es nicht«,
usw.), und sie fing an, sich zunehmend auf sich
selbst zu besinnen und Partei für andere Teile
der eigenen Person und andere Ansichten zu
entwickeln (»ganz so ist die Welt nun auch
wieder nicht«, ich bestimme über mich selber«,
»das sehe ich ein, das nicht«, » ich will nicht
mehr so hilflos und so klein sein«).
Es dauerte längere Zeit, bis sie diese neuen
Erlebnisse klar aussprechen konnte, aber sie
bekam im zunehmenden Maße das Gefühl, dass es
etwas in ihr gab, das sie bekämpfen musste und
auch bekämpfen konnte, im Interesse des eigenen
Lebens.
5. Fordern Sie ihn heraus,
experimentieren Sie mit ihm.
Dann fing sie allmählich an zu
experimentieren, wie sie es selber nannte. Sie
war nicht in der Lage, alles von einem Tag zum
anderen »umzukrempeln«. (Wie wir schon weiter
oben sagten, sollten vom Zwang Betroffene keine
Wunder von sich selbst erwarten.)
Aber sie wurde mutiger und fing an, vieles
auszuprobieren, was sie sich schon lange nicht
mehr zugetraut hatte, ja manchmal, den Zwang
geradezu herauszufordern.
Im Autobus blieb sie das eine Mal stehen, wie
der Zwang es verlangte (»bloß mit nichts in
Berührung kommen«), aber nicht mehr so, als sei
es das Selbstverständlichste der Welt. Sie sah
ganz bewusst die anderen Fahrgäste an, die auf
ganz natürliche Weise die freien Plätze
eingenommen hatten, und fragte sich: Warum ich?
Sind die denn blöd oder stimmt etwas mit mir
nicht? Warum darf ich mich nicht auch hinsetzen?
Beim nächsten Mal, während sie wieder stand,
stellte sie sich vor, wie es wäre, sich auch
hinzusetzen. Sie versuchte das Bild, sie als
Sitzende unter Sitzenden, eine ganze Weile in
sich aufrechtzuerhalten.
Ein anderes Mal streifte sie ganz bewusst einen
Sitz mit ihrem Mantel und fragte sich fast
trotzig: So, was nun? Geht die Welt jetzt unter?
Sie versuchte in sich hineinzuhorchen, ob sich
auf der Stelle ein unerträglicher Ekel oder eine
maßlose Angst einstellen würden, und zu ihrer
Überraschung stellte sie fest, dass dem nicht so
war.
Zu Hause hing sie ihren Mantel ganz bewusst an
den üblichen Haken, ein leichtes Unbehagen kam
auf und die üblichen Gedanken an eine endlose
Weiterverbreitung von irgendwelchen
Gefahrenstoffen. Sie blieb ganz bewusst vor dem
Mantel stehen, und nach einiger Zeit packte sie
eine Art Wut über ihre ganze verfahrene
Lebenssituation.
Dann legte sie ganz bewusst die Hand auf den
Mantelsaum und hielt sie vor die Augen. Nichts
geschah. Die Hand fühlte sich an wie immer.
Dann überkam es sie. Ganz langsam, aber mit
einer sicheren und entschlossenen Bewegung fuhr
sie sich mit der Hand durch die Haare. Sie würde
nie diesen Augenblick vergessen. Wut, Trotz,
Angst vor der eigenen Courage und alle möglichen
anderen Gefühle mischten sich und machten
schließlich einer Empfindung des Stolzes, ja
fast des Triumphes Platz.
Es war nicht das Ende der Zwangserkrankung, aber
mit einiger Hilfe der Anfang von einer
Besserung, die bis zur vollständigen Heilung
voranschritt. Dieses Beispiel zeigt die
allmähliche innere Distanzierung von den starren
Gesetzen, die der Zwang einem Menschen
auferlegt. Sie stellte zunehmend das in Frage,
was sie bisher bloß hinnahm.
Dadurch wurde sie immer mutiger, ja
experimentierfreudig, bis eine Art innere
Rebellion gegen den Zwang ausbrach.
6. Zwingen Sie sich,
zwanghafte Gedanken und Befürchtungen immer
konkreter werden zu lassen.
Zwangsbefürchtungen und überhaupt
alle Zwangsgedanken haben gemeinsam, dass sie
ein Thema vorgeben (in der Regel ein ganz
schreckliches und angsteinflößendes), das aber
wenig ausformuliert ist. Der Gedanke an sich ist
recht abstrakt und wirklichkeitsfern. In der
Regel handelt es sich dabei um schreckliche
Dinge, die der Betroffene tun könnte. Wie aber
die Ausführung der »schrecklichen Tat« aussehen
soll, wird so gut wie nie deutlich.
Der Betroffene erschrickt vor dem Gedanken und
wird an allen Ecken und Enden immer wieder in
angsteinflößender Weise daran erinnert. Er
unternimmt alles Mögliche dagegen, fragt sich
aber nie: Worum geht es denn eigentlich wirklich
und wie könnte es denn wirklich zur Ausführung
einer solchen Tat kommen?
Es geht also in den zwanghaften Grübeleien über
ein Thema (»Könnte es sein, dass ich, ohne es zu
wollen, meine Eltern durch ein Essen mit
Chemikalien vergifte?«) immer um das >Ob<
und nie um das >Wie<.
Nun könnten Betroffene meinen, das ständige
Fragen, ob eine solche Tat geschehen könnte und
was zu tun sei, um sie zu verhindern, reiche
doch aus. Es müsse doch noch viel schrecklicher
sein, sich auch noch über das Wie Gedanken zu
machen.
Da sind wir ganz anderer Meinung. Im Gegenteil:
Sobald Betroffene konkret werden, d.h. dem Wie
nachgehen, lässt die Angst rasch nach und in
vielen Fällen lösen die Zwangsgedanken sich
ziemlich bald in Luft auf.
Ich will Ihnen ein Beispiel geben.
Der Gedanke, die Eltern zu vergiften, war einer
der Zwangsgedanken der 26-jährigen Carola.
Ich zwang sie in der Therapie dazu, mit mir ganz
ausführlich folgende Fragen zu besprechen (vgl.
Hoffmann 1998, S. 313):
Wann ist die Gefahr am größten, am Wochenende
oder in der Woche?
Am Wochenende eher am Samstag oder am Sonntag?
Am Sonntag eher beim Frühstück, beim Mittagessen
oder beim Abendessen?
Beim Mittagessen während oder vor dem Essen?
Kommt vor dem Essen das Gift eher in die Suppe,
zum Fleisch oder in die Beilagen?
Welches Gift kommt in die Suppe?
Um welche Marke handelt es sich bei dem
Spülmittel? Wie ist die chemische
Zusammensetzung?
Welche Menge muss in die Teller gelangen, damit
zumindest eine erhebliche Vergiftung entsteht?
Ab welcher Dosis könnte der Tod eintreten?
Würde sich dadurch die Farbe oder der Geschmack
der Suppe verändern?
Wo steht üblicherweise die Flasche mit dem
Spülmittel?
Auf welche verschiedenen Arten und Weisen kann
das Gift in die Teller gelangen?
Wie muss die Flasche umgekippt werden, dass
Gifte in beide Teller gelangen?
Müssen es beide sein oder reicht auch einer?
Wenn es beide sind, muss die Flasche dann 2-mal
umkippen?
Wie müssen Flasche und Teller relativ zueinander
stehen? Usw.
Je mehr Carola anfing, sich mit
Details der Ausführung zu beschäftigen, desto
ruhiger wurde sie, im Gegensatz zu dem, was man
annehmen könnte.
Der üblicherweise unausformulierte und
wirklichkeitsferne Zwangsgedanke wird in seiner
ganzen Irrationalität und Irrealität entlarvt,
sobald man ihm »auf den Zahn fühlt«.
Sehen Sie sich Zwangsgedanken und -befürchtungen
genau an, anstatt automatisch die Flucht davor
zu ergreifen. Entlarven Sie sie als »zwanghafte
Hirngespinste«, die so gut wie nichts mit Ihren
wahren Absichten zu tun haben und überhaupt
nicht in Ihr Leben passen. Je mehr Sie sich
konkret damit beschäftigen, desto mehr werden
Sie die Angst davor verlieren und um so stärker
wird sich die Einsicht durchsetzen: So etwas
würde ich nie tun. Das passt gar nicht zu mir.
Wie soll das denn in Wirklichkeit geschehen? So
etwas ginge ja gar nicht.
Carola hatte auch die »Befürchtung«, sie könne
im Vorbeigehen, ohne es zu wollen und es zu
merken, den Elektroherd »mit der Hüfte«
anstellen. Als Übung sollte sie an drei
aufeinander folgenden Tagen jeweils 3 mal 10
Minuten versuchen, es zu tun, gab aber schon am
ersten Tag auf. Wundert Sie das?
7. Lernen Sie immer besser,
die gegenwärtige Wirklichkeit zu überschauen,
und werden Sie immer stärker zum Subjekt
kritischer Situationen.
Der Zwang beherrscht Menschen bis hin
zu ihrer Wahrnehmung.
In kritischen Situationen ist ihre
Aufmerksamkeitüberaktiv und auf einige für sie
relevante Details konzentriert. So starren sie
wie gebannt auf einen Fleck auf der Erde, der
ihnen verdächtig vorkommt, und sehen nichts
anderes mehr. Beim Kontrollieren des
Elektroherdes fixieren sie die Knöpfe, bis sie
ihnen schwammig und unscharf vorkommen. Sie
bekommen dann sehr schnell das Erlebnis, das wir
Unvollständigkeitsgefühl genannt haben, trauen
den eigenen Augen und ihrem Urteil (»Ich sehe
ja, dass die Zeiger auf Null stehen«) nicht
mehr, sind nicht in der Lage, den Vorgang
abzuschließen und fangen von neuem mit ihren
Kontrollen an, diesmal, indem sie an den Knöpfen
herumdrehen, usw.
Eines der besten Mittel, um den Zwang
beherrschen zu lernen, statt von ihm beherrscht
zu werden, ist sich selbst systematisch zu
trainieren, wieder Situationen voll und ganz,
mit hellem, wachem Bewusstsein zu erleben und zu
überblicken.
Ich nenne das wieder zum Subjekt einer Situation
werden.
Ich möchte das an Hand eines Beispiels
aufzeigen.
Frank hatte große Schwierigkeiten seine Wohnung
zu verlassen, weil er immer ein
»unbefriedigendes Gefühl« dabei hatte. Das war
auch dann der Fall, wenn er eine angenehme
Unternehmung wie einen Besuch bei der Freundin
vorhatte. Er fing dann an, alles Mögliche zu
kontrollieren. Diese Kontrollen hatten in
Wirklichkeit zum Ziel, einen anderen zufrieden
stellenderen Zustand in sich selber
herzustellen.
Das sah dann ungefähr so aus:
Frank verlässt das Haus und schließt
die Wohnungstür ab. Wie so häufig beschwert er
sich, dabei nichts »rechtes zu empfinden«. Er
spürt sich weder vor der Tür noch wenn er sie
zugemacht hat, noch beim Abschließen, noch wenn
er schließlich im Hausflur davor steht. Alles
ist so vage und unbefriedigend, dass er nicht
das Gefühl hat, einen Verhaltensabschnitt
ordnungsgemäß absolviert zu haben, so dass das
Leben organisch weitergehen kann.
Nehmen wir einen anderen Ablauf:
Frank steht in der Wohnung vor seiner
Wohnungstür. Es ist Samstag, 14:30 Uhr. Er sieht
sich die Tür an und bemerkt wieder den rissigen
braunen Farbanstrich, der am unteren Teil fast
ganz abgeblättert ist. Ich muss sie dringend
streichen, wie so manches in der Wohnung, sagt
er sich. Spätestens im Frühjahr werde ich mich
daranmachen. Die Freundin hat versprochen, ihm
dabei zu helfen. Das kann vielleicht ganz nett
werden, trotz der Plackerei. Er wird jetzt die
Wohnung verlassen, um zu ihr zu fahren. Gegen
15:15 Uhr wird er bei ihr sein und er freut sich
darauf. Letzten Samstag war das Treffen etwas
misslungen wegen des Streits über die nächsten
Ferien. Heute werden wir alles Notwendige in
Ruhe klären, nimmt er sich vor und auch, sie
nicht ständig zu unterbrechen, um sich
durchzusetzen. Er geht auf die Tür zu, legt die
Hand auf die Klinke und öffnet sie mit einer
beherzten Bewegung. Er hat seinen Feierabend
mehr als verdient. Er hat seit 9 Uhr an der
Vorbereitung seiner nächsten Klausur geschuftet
und ist gut vorangekommen. Er ist stolz auf
sich, aber auch froh, jetzt endlich aus dem Haus
zu kommen. Die Sonne scheint und er freut sich
auf den Spaziergang, den sie später machen
werden. Nur raus hier! Er schließt die Tür, fast
wirft er sie zu. Nun schließt er ab, 2-mal, rund
und energisch. So, zu. Er nimmt die Stufen fast
im Laufschritt. Draußen ist es hell, nicht wie
in dem vergammelten Hausflur. Vor morgen früh
muss er ihn nicht mehr sehen. (Hoffmann, 1998)
Versuchen Sie so häufig wie möglich,
sich ganz bewusst in einen Zustand zu versetzen,
bei dem Sie die Dinge draußen, aber auch das,
was in Ihnen vorgeht, bewusst wahrnehmen. Dann
führen Sie das, was zu tun ist, voll bewusst und
zügig durch. Das Ergebnis wird sein, dass Sie
viel weniger von Störungen in Form von
Zwangsgedanken oder -befürchtungen heimgesucht
werden und infolgedessen auch besser auf
Zwangshandlungen verzichten können.
8. Lassen Sie andere Menschen
möglichst aus Ihren Zwängen heraus.
In dem Maße, in dem Sie Ihren Zwang
besser kennen lernen, die kritischen Situationen
bewusster erleben und eine gewisse innere
Distanz zu Ihren eigenen Gedanken erlangen,
sollten Sie auch in der Lage sein, immer mehr
die Verantwortung für die eigene (noch)
zwanghafte Sicht der Welt übernehmen zu können.
Wenn ich in den Supermarkt einkaufen gehe,
kommen mir die üblichen Gedanken über die
mögliche Verunreinigung der Waren, sagen wir
dieser Mineralwasserflaschen.
Dies ist einer meiner typischen Zwangsgedanken.
Er sagt etwas darüber aus, dass ich noch an
einem Zwang leide. Er sagt nichts aus über den
Zustand der Welt, oder dieser Flasche. Wenn ich
mich (im Zwang) verpflichtet fühle, die Flasche
feucht abzuwischen, bevor sie ihren Platz in der
Küche findet, so muss ich das verantworten. Das
gibt mir nicht das Recht, dieselbe Prozedur von
meiner Partnerin zu verlangen.
Sie ist nicht von einem Zwang betroffen. Sie
erlebt die Welt anders, so wie die meisten
Menschen, auch wenn mir tausend Gedanken kommen
über eine mögliche Kontaminierung der Wohnung,
so sind dies wiederum meine Gedanken. Meine
Partnerin hat sie nicht. Ich habe nicht das
Recht, sie nach meinen Gedanken funktionieren zu
lassen, auch wenn es mir sehr schwer fällt.
Ich muss mich wirklich nicht schämen oder mir
Vorwürfe machen. Ich veranstalte das alles ja
nicht, um andere zu ärgern, zu kränken oder um
ihnen das Leben schwer zu machen. Ich bin auch
nicht bewusst darauf aus,
Macht über andere und ihr Leben zu
gewinnen, obwohl so etwas durchaus dabei
herauskommen kann. Aber ich habe andere aus
meinen eigenen Problemen herauszulassen. Ich
kann sie nicht ständig in den gestörten Teil
meiner selbst mit einbeziehen. Das ist nicht
länger tolerierbar und damit muss Schluss sein.
9. Durchbrechen Sie Ihre
Isolation.
Von Zwängen Betroffene können sehr
einsame Menschen sein, weil sie mit allen
Mitteln bestrebt sind, ihre Zwänge vor anderen
zu verbergen und einen »normalen« Eindruck zu
machen.
Das ist nachvollziehbar, weil sie bei der
Eigenart der Störung ja nicht unbedingt auf das
Verständnis und die Anteilnahme anderer hoffen
können. Darüber hinaus ist es schwer zuzugeben,
dass sie für andere ganz harmlose Situationen
Gefühle und Gedanken haben, die anderen fremd
sind. Niemand will es riskieren als Spinner oder
gar als Verrückter abgestempelt zu werden.
Auch die Scheu, professionelle Hilfe in Anspruch
zu nehmen, ist größer als bei anderen seelischen
Problemen, weil Zwänge auch in Fachkreisen nicht
so gut bekannt sind und es wenige echte
Spezialisten dafür gibt.
Dennoch: Wenn Sie bislang versucht haben gegen
Ihre Zwänge anzukämpfen und keine oder zu wenig
Erfolge hatten, sollten Sie den mutigen Schritt
unternehmen, aus Ihrer Isolation herauszutreten.
Sie müssen weder beichten noch einen
Offenbarungseid leisten, aber Sie brauchen
Hilfe.
Zuerst reden Sie mit Ihrem nächsten Partner und
gestehen Sie Ihre Angst und Unsicherheiten.
Daraus kann ein gemeinsamer Kampf gegen den
Zwang werden, der allen weiterhilft.
Informieren Sie sich über Ihre Erkrankung und
reden Sie mit Menschen, die sie gut kennen.
Es gibt einmal die Möglichkeit, einen
kompetenten Facharzt oder einen
Psychotherapeuten aufzusuchen und sei nur, um
ein erstes Informationsgespräch zu führen.
Wenn Sie zu stark an Ihren Zwängen leiden, wenn
sie Ihr Leben gravierend behindern oder wenn Sie
merken, dass Sie überhaupt nicht mehr damit
fertig werden, dann sollten Sie eine gezielte
Einzeltherapie, am besten eine
Verhaltenstherapie, bei einem auf Zwänge
spezialisierten Therapeuten in die Wege leiten.
Über eine solche Therapie möchten wir noch kurz
berichten.
Doch zuerst noch ein paar Worte an die
Angehörigen von Betroffenen.
Was
Angehörige tun können
Nahe Kontaktpersonen von Betroffenen
leiden unter einer Zwangssymptomatik nicht
selten so stark wie diese, ja in einigen Fällen
sogar mehr.
Das ist vor allem dann der Fall, wenn sie in den
Zwang mit einbezogen sind, z.B. in dem Sinn,
dass auch sie Vorsichts- und Reinigungsrituale
ausführen sollen, z. B., damit die Wohnung nicht
»verseucht« wird.
In fast allen Fällen müssen Partner oder andere
Angehörige Rückversicherungen abgeben, da die
Betroffenen selten in der Lage sind, sich selber
innerlich so zu organisieren und zu steuern,
dass sie mit gutem Gewissen Situationen
abschließen können, ohne ständig von
Selbstzweifeln geplagt zu werden.
So werden Angehörige oft zu einem ihnen sinnlos
er-scheinenden oder gar abstrusen Verhalten
verleitet, oft geradezu gezwungen. Sie erleiden
dadurch nicht selten Einschränkungen in ihrem
eigenen Leben, die mit der Zeit und der
Ausbreitung der Zwänge immer schwerer zu
ertragen sind.
Ich möchte Ihnen als Angehörige hier vier Arten
von Maßnahmen empfehlen, die in aller Interesse
sind.
1. Schaffen Sie eine
gemeinsame Gesprächsbasis.
Für den Fall, dass Sie vermuten,
jemand aus Ihrer näheren Umgebung könne Probleme
in dieser Richtung haben, so informieren Sie
sich erst einmal über die Krankheit. Lesen Sie
allgemein verständliche Literatur darüber, oder
suchen Sie einen Gesprächspartner auf, mit dem
Sie Ihre Vermutung fundiert besprechen können.
Das ist kein Verrat an Ihrem Partner oder Ihrer
Partnerin, sondern ein Schritt in aller
Interesse.
Melden Sie ihn oder sie nicht gleich
zu einer Therapie an: Das wäre sinnlos und
übereilt.
Wenn Sie sich ziemlich sicher sind, dass etwas
in der Richtung vorliegt, dann suchen Sie in
aller Ruhe ein klärendes Gespräch. Ihr Partner
hat nicht mehr länger das Recht, seine
Schwierigkeiten zu seiner Privatangelegenheit zu
erklären, aufgrund ihrer Auswirkungen.
Fangen Sie das Gespräch an mit dem Satz:
Mir ist in letzter Zeit aufgefallen, dass du ...
Ich fürchte, du hast da ein Problem, und es ist
dabei
auch ein Problem für unsere Partnerschaft (oder
für unsere Familie) zu werden ...
Du verlangst von mir, dass ich ...
Immer wenn ich dies oder jenes tu, reagierst du,
indem du ...
Ich glaube es ist an der Zeit, dass wir darüber
reden. Verlangen Sie am Anfang keine lückenlose
Beschreibung
der Gesamtsymptomatik oder eine Art
Kapitulationserklärung.
Begnügen Sie sich damit, die Basis für weitere
gemeinsame Gespräche und für einen gemeinsamen
Umgang mit den Schwierigkeiten zu legen.
Sollte die betroffene Person alles abstreiten,
so lassen sie ihr Zeit. Sagen Sie bloß: Wenn du
nicht gleich mehr mit mir darüber reden willst
oder kannst, so ist das für mich in Ordnung.
Aber ich bleibe bei meiner Angst, dass etwas
nicht stimmt. Lass es dir durch den Kopf gehen.
Kommen Sie nach einiger Zeit wieder auf das
Thema zurück, wenn nichts geschieht.
Auf diese Art helfen Sie der betroffenen Person,
den völlig natürlichen Widerstand in Form von
Scham oder von Peinlichkeit zu überwinden, der
für fast alle typisch ist.
2. Maßnahmen im gemeinsamen
Interesse
Die Zeit, bevor die betroffene Person
offen mit Ihnen reden kann, und auch die erste
Zeit danach stellen sicherlich schwere Momente
für Sie dar. Es ist umso wichtiger, dass Sie
trotzdem nicht den Kopf verlieren, nur mehr an
die Störung denken und sozusagen alles durch die
Brille des Zwanges sehen.
Auch bei einer schweren Störung reagiert Ihr
Partner, Ihre Partnerin in vielen
Lebensbeziehungen völlig normal. Versuchen Sie,
das Gewicht so viel wie möglich darauf zu legen.
Stellen Sie auf keinen Fall die ganze Beziehung
in Frage, indem Sie meinen: Bis er oder sie
gesund ist, müssen wir uns auf die Krankheit
konzentrieren.
Im Gegenteil: Setzen Sie so oft wie möglich
problemlose gemeinsame Aktivitäten in Gang.
Helfen Sie der betroffenen Person, sich auf ihre
Stärken und Interessen zu besinnen. Ihr
gemeinsames Leben darf nicht stehen bleiben. Je
mehr passiert, bei dem der Zwang keine oder nur
eine geringe Rolle spielt, desto besser ist es
für alle, auch für die gemeinsame Zukunft.
3. Maßnahmen im Interesse der
Betroffenen
Zuerst möchten wir angeben, womit Sie
keinen Erfolg haben werden. Es ist sinnlos,
durch Druck, durch moralische Appelle oder durch
Appell an" den gesunden Menschenverstand
Betroffene von ihrem Zwang abbringen zu wollen.
Sie sind auch nicht in der Lage, ihre Störung
abzulegen, indem sie sich »bloß zusammenreißen«!
Sagen Sie auch nicht: Bin ich es dir denn nicht
wert!
Betroffene handeln so wie sie handeln nicht
deshalb, weil andere ihnen nichts bedeuten,
sondern weil sie krank sind.
Auf der anderen Seite muss der Betroffene
unmissverständlich erfahren, dass Sie als
gesunde Person seine Sicht der Dinge nicht
teilen.
Lassen Sie sich auf keinen Fall in Diskussionen
verwickeln über die Wahrscheinlichkeit, mit der
ein Unglück eintreffen werde, wenn die
betroffene Person ihre Zwangshandlung nicht
ausführt. Seien Sie ganz ehrlich und sagen Sie
einfach: Das ist für mich kein Thema. Setzen Sie
klare Grenzen dort, wo der Betroffene von Ihnen
verlangt, ein ähnliches Zwangsverhalten wie er
auszuführen. Sagen Sie deutlich: Bis hierher und
nicht weiter, auch wenn es daraufhin zu schweren
Auseinandersetzungen kommt.
Die kranke Person muss mit der Wirklichkeit
konfrontiert werden, damit sie die Motivation
entwickelt, gegen ihre Zwänge, etwa mit
therapeutischer Hilfe, anzukämpfen.
Holen Sie sich Hilfe durch Gespräche mit einer
Fachperson oder im Kreise von Angehörigen von
Betroffenen.
Sie drücken Ihre Zuneigung am besten dadurch
aus, dass Sie die gesunden Teile Ihres
Angehörigen weiterhin lieben, achten und
respektieren, sich aber klar gegen die Störung
stellen.
Informieren Sie ihn am Anfang über Möglichkeiten
der Hilfe, machen Sie ihm Material zugängig usw.
Aber versuchen Sie ihn nicht zu überrennen,
indem Sie ihn z.B. ohne sein Wissen irgendwo
anmelden: Das würde zu nichts führen.
4. Maßnahmen im Interesse der
Angehörigen
Niemand ist durch Liebe, guten Willen
oder eigene Anstrengungen in der Lage, jemanden
von seinem Zwang zu befreien. Suchen Sie weder
in der Vergangenheit noch jetzt die Schuld bei
sich. Die betroffene Person ist nicht krank
geworden, weil Sie etwas falsch gemacht haben.
Sie
behält ihre Krankheit nicht, weil Sie aktuell
etwas versäumen.
Sie können nicht die Rolle der Therapeuten
übernehmen. Vergessen Sie Ihre eigenen Rechte
und Bedürfnisse nicht. Auch wenn Ihr Partner
krank geworden ist, helfen Sie ihm nicht
dadurch, dass Sie sich permanent ins Aus stellen
und auf alles verzichten, nur weil der Zwang
anderer Meinung ist. Zeigen Sie dem Partner,
dass Sie ein eigenständiger Mensch bleiben und
dass Sie gerne bereit sind, wieder alles mit ihm
zu teilen, wenn er etwas gegen seine Störung
unternimmt.
Aber Sie müssen an der Stelle in seinem und in
Ihrem Interesse sagen: Jetzt oder nie ist er
dran.
Es gibt wirkungsvolle Hilfe für Zwangskranke. Es
fällt ihnen nicht leicht, sie in Anspruch zu
nehmen. Aber meistens haben sie keine andere
vernünftige Wahl.
Psychotherapie
Zwangsstörungen sind seelische
Erkrankungen, die nach wie vor viele Rätsel
aufgeben. Sie treten auf der ganzen Welt auf, in
ganz verschiedenen Kulturkreisen. Es gibt
wissenschaftliche Belege dafür aus allen
westlichen Ländern, aber auch aus Indien,
Hongkong, Taiwan, Ägypten und Sri Lanka, unter
anderem. Sie haben überall fast die gleichen
Symptome. Man geht davon aus, dass in
Deutschland etwa zwei Prozent der
Gesamtbevölkerung von Zwangserkrankungen im
engeren Sinne betroffen sind. Das ist sehr viel,
bedenkt man, dass daneben zahlreiche Menschen an
Zuständen leiden, die eine gewisse Ähnlichkeit
damit haben. Nicht berücksichtigt sind bei
dieser Berechnung Menschen, die die Struktur der
zwanghaften Persönlichkeit aufweisen.
Zwangskranke leiden typischerweise häufig
zusätzlich an anderen seelischen Störungen wie
Depressionen, Ängste anderer Art, Essproblemen
und so weiter.
Die Erforschung der Ursachen ist heute so weit
fortgeschritten, dass erste Angaben darüber
möglich sind. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind
Zwangserkrankungen auf ein ganzes Bündel von
Ursachen zurückzuführen. Es ist erwiesen, dass
auch organische Faktoren eine Rolle spielen. Es
gibt zumindest zeitweise eine Störung des
Zusammenwirkens bestimmter Gehirnanteile und
auch der Gehirnstoffwechsel ist im Laufe der
Erkrankung verändert. Doch es handelt sich dabei
nicht um eine irreversible Schädigung. Wir
wissen mit Sicherheit, dass nach einer
erfolgreichen Therapie diese Anomalien
verschwinden. Das Mitwirken einer organischen
Komponente bei Zwängen erklärt auch, warum
bestimmte Medikamente zusammen mit
Psychotherapie oft gute Dienste leisten und in
einigen Fällen unerlässlich sind.
Unbestritten ist weiter folgendes: Ein
biologischer Ansatz allein wird einer so
komplexen Störung wie der Zwangserkrankung nicht
gerecht. Mit Sicherheit spielen auch Einflüsse,
denen die Kranken im Laufe ihres Lebens
ausgesetzt waren, eine wichtige Rolle. Oft steht
ein Elternteil Modell für extrem verunsichertes,
ja ängstliches Verhalten. Das Kind übernimmt
dann bestimmte Regeln oder Absicherungen,
Schmutz zum Beispiel oder andere Gefahren
betreffend. Eine besondere Rolle scheint auch
starke Kontrolle oder harsche Kritik während der
Erziehung in diesem Zusammenhang zu spielen.
Haben die Eltern das Klima in diese Richtung
geprägt, können später bei Belastungen starke
Ängste vor eigenen Fehlern auftreten, die dann
mit den Mitteln des Zwanges beschwichtigt
werden. Wir haben das an einigen Beispielen
deutlich
gesehen.
Aber die Einsicht in solche Zusammenhänge allein
bewirkt fast nie eine Besserung der Erkrankung.
Das ist bedauerlich, aber wir müssen es noch
einmal sagen: Mit Betroffenen über ihre Zwänge
zu reden, über ihre aktuelle Situation oder über
ihre Kindheit, das allein bewirkt keine Heilung.
Angehörige oder andere Kontaktpersonen, auch
wenn sie es noch so gut meinen, sind nicht in
der Lage, Kranke von ihren Zwängen zu befreien.
Niemand soll sich als Versager fühlen, wenn es
ihm nicht gelingt, seinen Partner oder sein Kind
auf die Art zu heilen. Man soll es erst gar
nicht versuchen.
Das bedeutet allerdings nicht, dass man sich
deshalb selber den Regeln eines fremden Zwanges
unterwerfen muss, um den Betroffenen das Leben
leichter zu machen oder bloß um ständigem Ärger
aus dem Weg zu gehen. Das wäre keine Hilfe,
sondern eine stillschweigende Unterstützung des
Zwanges. Hier müssen deutlich Grenzen gesetzt
werden, im eigenen Interesse und in dem der
Kranken.
Es gibt Möglichkeiten der Selbsthilfe bei
Zwangskranken. Wir haben sie an anderer Stelle
beschrieben. In vielen Fällen aber reichen sie
nicht aus, und es muss professionelle Hilfe in
Anspruch genommen werden.
Die Grundzüge eines wirkungsvollen
therapeutischen Ansatzes wollen wir nun kurz
beschreiben.
Die Verhaltenstherapie, die modernste Form der
Psychotherapie, basiert auf wissenschaftlichen
Aussagen der Psychologie. Sie versucht sie
anzuwenden, um seelische Krankheiten zu heilen.
Es geht dabei nicht bloß darum, »Verhalten« zu
verändern, wie der Name es suggerieren könnte,
sondern Verhaltenstherapie hat zum Ziel,
Störungen samt ihrer Ursachen zu beseitigen. Im
Falle von Zwangserkrankungen ist sie das Mittel
der Wahl. Sie hat die besten Erfolge
aufzuweisen, wenngleich es sich bei
Zwangsstörungen um komplexe Zustände handelt,
die oft seit vielen Jahren das Leben der
Betroffenen beherrschen. Die Therapie kann somit
relativ aufwendig werden. Ihr zugrunde liegen
zwei wesentliche Prinzipien:
Das erste besagt, dass Störungen am
ökonomischsten und am wirksamsten in dem Milieu
behandelt werden können, in dem sie
üblicherweise auftreten. Denken wir an unsere
Beispiele. Die Kontrollen der Frau Wandt und die
Ängste, die ihnen vorausgehen, treten vor allem
in der Wohnung und auf der Straße auf. Herr
Morten leidet an Zwangsvorstellungen, wenn er
auf Kinder trifft und von der Angst überfallen
wird, sie unabsichtlich zu schädigen. Petras mit
Vaterigem verseuchte Sachen sind in ihrer
Wohnung deponiert und Gisberts
Feuerbrunstphantasien bevölkern vor allem die
Bibliothek. In der Praxis eines
Psychotherapeuten können sie lediglich darüber
berichten und das, wie gesagt, reicht nicht.
Manchmal lassen sich auch für die Patienten
kritische Situationen beim Therapeuten direkt
herstellen, wie das Anfassen von Türklinken oder
das Aufheben von Gegenständen, die den Boden
berührt haben. Doch es ist am besten, die
Therapie so weit wie möglich in das natürliche
Milieu des Patienten zu verlegen, dort wo die
Probleme in ihrer ganzen Schärfe auftreten.
Das zweite Prinzip, das zur Anwendung kommt, ist
eines der grundlegendsten des Lebens überhaupt.
Bei wiederholter Konfrontation mit Gefahren,
auch dann, wenn diese wie beim Zwangskranken
durchaus subjektiv sind, mobilisiert der Mensch
schon vorhandene innere Ressourcen und lernt
neue dazu. Wenn die Bedingungen günstig sind,
und dafür hat der Therapeut zu sorgen, schafft
er es immer besser, mit seinen Ängsten
umzugehen. Er gewöhnt sich schließlich an die
kritische Situation. Er kann sich immer besser
von den eigenen bedrohlichen Gedanken
distanzieren und verspürt daher immer weniger
Angst. Er hat in zunehmendem Maße das Gefühl,
die Situation bewältigen zu können. Sie verliert
dadurch langsam ihren bedrohlichen Charakter,
und seine zwanghaften Reaktionen lösen sich nach
und nach auf Der Umgang mit dem Leben
normalisiert sich.
Damit dieser Prozess aber erfolgen
kann, gibt es eine unabdingbare Bedingung. Wir
haben bei Zwangsstörungen grundsätzlich zwischen
der Angstseite und der Abwehrseite
unterschieden. In der Therapie werden Patienten
mit Situationen konfrontiert, die ihre Ängste,
Befürchtungen und so weiter auslösen, allerdings
auf eine Art, die sie nicht überfordert. Mit
ihnen müssen sie sich auseinander setzen, aber
ohne ihre übliche Abwehr dagegen in Form von
Kontrollieren, Abwaschen, Annullieren und so
weiter einzusetzen. Würden sie das tun, so
würden sie ja immer wieder bloß ihre gesamte
Zwangsstörung ausleben, und es könnte von
Therapie und von Fortschritten keine Rede sein.
Indem sie bewusst und freiwillig auf den
»Gegenzauber« verzichten, lernen sie die
Situation anders zu bewältigen. Das ist die
Voraussetzung für eine Heilung.
Es ist normal, dass diese Strategie den
Patienten oftmals befremdlich, ja bedrohlich
vorkommt. Sie haben ja gelernt, bestimmte
Situationen zu vermeiden, und wenn dies nicht
möglich ist, sie zumindest mittels ihrer
zwanghaften Abwehr zu »entschärfen«. Nun sollen
sie sich bewusst stellen und dabei auch noch auf
»ihre Maßnahmen« verzichten. Vor jeder Therapie
muss ihnen die Vorgehensweise unbedingt
plausibel gemacht werden. Man beruft sich dabei
auf die zugrunde liegenden Prinzipien und auf
praktische Erfahrungen, die seit einigen Jahren
damit gemacht wurden. Die Hauptschwierigkeit der
Therapie liegt darin, sie zu motivieren,
zusammen mit dem Therapeuten diesen Weg
einzuschlagen und ihn durchzustehen. Unter
seiner behutsamen Leitung, auf dem Hintergrund
seiner Erfahrungen und seines Verständnisses für
ihre Unsicherheit sind die meisten Patienten in
der Lage, diesen momentan einzigen Erfolg
versprechenden Weg zu gehen.
Ich kann hier nicht auf sämtliche Aspekte einer
solchen Therapie eingehen. (Siehe dazu:
Hoffmann, 1998) Der Patient wird während des
gesamten Verlaufs einbezogen und entscheidet
mit, wie vorgegangen wird. Er fühlt sich an
keiner Stelle bevormundet oder allein gelassen.
Nun wollen wir einen kurzen Eindruck von dieser
gemeinsamen Arbeit geben.
Mit Dagmar auf einem Bauernhof am
Rande von Berlin. Kühe und Schafe sind auch da.
Wir erinnern uns, Tetanus steht für sie jetzt im
Vordergrund, aber im Grunde genommen ist es ein
freier, angstloser Umgang mit der Welt, der neu
gelernt werden muss. Zuerst mit mir zusammen,
dann allein, und so, dass sie später leben kann
wie andere auch. Wie machen es denn die anderen,
hatte sie ziemlich am Anfang gefragt. Wir
redeten viel darüber und sie war sehr erstaunt,
fast ungläubig, als ich ihr beschrieb, wie
andere, ich eingeschlossen, sich verhalten.
Nun sollte sie zuerst Menschen beobachten, die
über Wiesen gehen, auf denen auch Tiere sind.
Sie sehen so fröhlich aus, meinte sie. Kennen
sie denn nicht die Gefahr? Wir redeten wieder
einmal über Zwang und Wirklichkeit, wie so oft
schon. Also auch zu Hause tun sie sich danach
nicht schwer und starten keine stundenlangen
Aktionen, sie schien es kaum zu glauben. Ob ich
es auch lernen kann? Die Angst ist so groß.
Ich betrete die Wiese, sie zögert,
kommt aber doch, etwas unruhig zwar, den Blick zur
Erde gesenkt. Alles ist genau abgesprochen. Je
weiter wir gehen, desto mehr steigt die Angst.
Aber sie ist darauf eingestellt. Sie soll den
Zwang bewusst erleben und sich dabei sagen: Das
ist er, jetzt geht es los. Sie schildert mir ihr
Empfinden. Das ist abgemacht. Aber ich beruhige
oder tröste sie nicht, sie stellt sich dem Ganzen.
Es tauchen Erinnerungen auf, an ihr Leben, manche
schwere Stunde. Wir reden darüber. Nach einer
halben Stunde wird sie etwas ruhiger, doch dann
wieder der Gedanke: Ich könnte damit in Berührung
kommen. Das ist so auf einer Wiese, meine ich.
Zu
unserem
Vorgehen:
Expositionstherapie
(erschienen in
"Psychotherapie im Dialog", 2014, Heft 2,
Thieme-Verlag)
Das Hauptverfahren bei der Therapie von
Zwangserkrankungen sind in vivo Expositionen. Sie
müssen von der Zielsetzung und von der Art der
Ausführung her auf den zu behandelnden Menschen
zugeschnitten sein. Das betrifft sowohl seine
persönliche Situation (z.B. seine aktuelle
Belastbarkeit) als auch die psychischen Faktoren
der jeweiligen Störung. Da wir hier unseren
Expositionsansatz beschreiben wollen, müssen wir
zunächst darauf eingehen, welche psychischen
Funktionen von dieser Störung betroffen sind.
Welche psychischen Funktionen sind bei
Zwangskranken beeinträchtigt?
Ein
Modell der Entstehung von Zwangsstörungen auf
der Basis der Zweifaktorentheorie von Mowrer,
auch scheinbar angereichert durch die
Einbeziehung "semantischer Netzwerke" und
dergleichen, wird der Vielschichtigkeit der
Beeinträchtigung von Zwangspatienten in keiner
Weise gerecht. Eine vertiefte Beobachtung und
Analyse des Zustandes an Zwängen erkrankter
Menschen ergibt ein viel komplexeres Bild. Als
Grundlage scheint eine tiefgreifende
Störung des Handelns vorzuliegen (Janet, 1903;
Hofmann und Hoffmann, 1998).
Doch
bevor wir auf die damit einhergehenden typischen
Defizite zu sprechen kommen, fassen wir zunächst
kurz zusammen, wie ein normales, gutes
Funktionieren beim Handeln aussieht.
Eine
vollständige
und damit erfolgreiche Handlung besteht aus
folgenden Teilen: aus den „elementaren
Funktionen“ und aus der "höheren Exekutive".
Gehen
wir zunächst auf die elementaren Funktionen ein.
Um ein Bedürfnis zu befriedigen, orientiert man
sich zuerst über die innere und äußere
Gesamtlage. Zuerst gewinnt man einen groben
Überblick, der zunehmend differenziert wird.
Schließlich stellt man ein klares Handlungsziel
auf. Auf diesen Grundlagen erfolgen verschiedene
mögliche Handlungsplanungen (Wie könnte ich
vorgehen?). Im nächsten Schritt entscheidet man
sich für den erfolgversprechendsten Plan. Nun
soll dieser Plan in die Realität umgesetzt
werden, möglichst ohne Zögern und Zaudern. Dazu
aktivieren wir unseren Willen, energetisieren
uns, erhöhen unserer Spannkraft und geben uns
einen klaren Handlungsimpuls: "So jetzt beginne
ich mit dem ersten Schritt". Danach führen wir
die Handlung gemäß dem Plan aus. Wir beenden
sie, wenn Ziel und Ergebnis ausreichend
übereinstimmen.
Über
diese elementaren Funktionen hinaus verfügen wir
über eine höhere Ebene, die Exekutive. Sie
funktioniert wie eine "Regierung“ über den
elementaren Funktionen und koordiniert sie. Sie
überwacht die Planung, die Ausführung und
beendet die Handlung, wenn das Ziel erreicht
ist. Neben der Steuerung unserer Handlungen
greift sie v.a. dann regulierend ein, wenn
Schwierigkeiten und Hindernisse auftauchen.
Beispielsweise werden starke Erregungen und
belastende Gefühle herunter reguliert, um sich
mit der Situation weiter auseinandersetzen zu
können. Auch wird einer spürbar nachlassenden
Willens- und Spannkraft durch eine innere
Energetisierung entgegengewirkt. Bei
fehlgeschlagenen Plänen wird "von oben" flexibel
umgeplant und ein neuer Versuch in die Wege
geleitet.
Das
diese Vorgänge begleitende Metagefühl ist in
etwa: "Ich bin das entscheidende, bestimmende,
steuernde Subjekt". "Ich bin voll und klar da
und fühle mich selbstwirksam, auch in kritischen
Situationen". „Bei auftretenden Schwierigkeiten
kann ich mir vertrauen“. Das Ich wird als
oberste Steuerinstanz des Handelns voll erlebt
und stellt sich der Wirklichkeit, positioniert
sich in ihr, fühlt sich körperlich und seelisch
voll da, sozusagen als eine „gute Gestalt“.
Schauen
wir
uns Zwangskranke genauer an, so sind nicht
wenige dieser elementaren und übergeordneten
Funktionen gestört, teilweise regelrecht gehemmt
oder sogar unterdrückt:
Auffällig
ist erst einmal die fehlende klare
Orientierungsfunktion.
Einige
Beispiele:
So steht ein Patient mit Kontrollzwang lange
Zeit röhrenförmig starrend vor einem Wasserhahn
(s. Ecker, in diesem Heft). Eine Patientin mit
Berührungsvermeidungszwang kann Entfernungen
nicht mehr richtig einschätzen. Jemand mit der
Aversion, auf Fugen und andere Übergänge zu
treten, steht auf einem Bahnhof, hilflos vor den
ihn quasi überflutenden und überfordernden
Eindrücken; alles erscheint ihm relieflos,
verschwommen und ungewiss. Als Folge der
Defizite einer klaren, ordnenden Orientierung,
werden viele Situationen als diffus und unsicher
bis gefährlich erlebt.
Funktionen
der Zielbildung sind ebenfalls gestört.
Dadurch,
dass
der Zugang zu den eigenen Gefühlen und
Bedürfnissen erschwert bis blockiert ist, fällt
es schwer, sich befriedigende und an der
Realität orientierte Ziele zu setzen. So hat
v.a. der blockierte Gefühlszugang zur Folge,
dass deren Leitfunktion beim Zielerstellen und
beim Handeln erschwert ist. Eine Patientin steht
vor einem großen Einkaufszentrum und berichtet,
sie habe zu keinem Zeitpunkt den Wunsch verspürt
sich etwas zu kaufen oder etwas zu essen.
Stattdessen ist sie die ganze Zeit voll und ganz
damit beschäftigt, die mögliche
Asbestverseuchung der einzelnen Geschäfte
abzuschätzen. Auf dieser Basis richtet sich das
ganze Denken nach dem „Sicherheitsbedürfnis“ des
Zwangssystems. Es werden dabei Vermeidungsziele
aufgestellt mit Sätzen wie: "ich darf unter
keinen Umständen...". Die in ihrem Sinne
ausgeführten Handlungen werden als fremd und wie
von der Person losgelöst erlebt ("ich stehe
neben mir, wie im Nebel", "ich fühle mich wie
ein Automat, ohne Leben“.)
Die
volitionale Funktion (der Wille) ist
weitestgehend geschwächt.
Das
führt dazu, dass kein gerichteter Energieschub
möglich ist, die innere Entschlusskraft und
Spannkraft beim Handeln fehlen. Ein Beispiel:
die Patientin vor dem Einkaufszentrum berichtet,
dass sie über eine Stunde dort stehen geblieben
sei ohne das Gebäude zu betreten oder sich von
ihm zu entfernen und weiter zu gehen. Sie habe
auf eine Art "Handlungssignal“ gewartet, das
lange Zeit nicht gekommen sei.
Die
Exekutive, als regierende Kontroll- und
Steuerungsinstanz, funktioniert schlecht.
Bei
Schwierigkeiten
wäre umso stärker eine höhere Selbst-Bewusstheit
und ein effizientes Selbstregulationsvermögen
erforderlich. Es passiert genau das Gegenteil.
"Wenn Chaos droht, dann lasse ich meinen Willen
fallen, lasse alles los und fühle mich wie ein
Mensch ohne Knochen, alles ist weich, labberig,
klein“, bemerkt eine Patientin. Anstatt sich
voll zu erleben, sich zu positionieren,
nachzudenken und zu handeln geht sie in die
gegenteilige Richtung : "Als Sie mir sagten, ich
solle mich beim Anfassen meiner
„asbestverseuchten Briefe“ aufrichten, sank ich
geradezu in mich zusammen. Es kamen Angstgefühle
aus meiner Lebensgeschichte hoch und dann wollte
ich mich erst recht ducken und nichts mehr
sehen. Ich wollte lieber alles laufen
lassen...".
Handeln-lernen
trotz Zwangssymptomatik: In vivo Expositionen
Wie
wir versucht haben zu zeigen, sind
Zwangsstörungen durch tiefgreifende Störungen
unseres Handelns geprägt. In der Therapie wird
es darum gehen, die dafür notwendigen
psychischen Funktionen wieder zu aktivieren,
systematisch aufzubauen, sie zu koordinieren und
dabei die höhere Exekutive wiederzubeleben. Auf
die Art lernt der Patient wieder nach eigenen
Bedürfnissen und mit vollem Bewusstsein zu
handeln und sich dabei als Subjekt zu erleben.
Die Expositionen haben zum Ziel, die externale
Ersatzregulierung durch das Zwangssystem
abzubauen und die internale Selbstregulierung,
bezogen auf die wahren Bedürfnisse des Lebens,
sukzessive wieder aufzubauen.
Im
Laufe der Therapie wird ein großer Teil der
Arbeit im natürlichen Lebensraum des Patienten
stattfinden, soll das Übel an den Wurzeln
gepackt werden. Da die ausgesuchten
Übungssituationen mehr oder weniger
Zwangsreaktionen auslösende Stimuli enthalten,
ist es unvermeidlich, ja sogar erwünscht, dass
die Patienten sich intensiv mit ihren eigenen
Reaktionen konfrontieren, sowohl auf kognitiver
als auch auf emotionaler Ebene. Gleichzeitig
werden sie mit ihren typischen Flucht- und
Vermeidungstendenzen konfrontiert. Damit werden
sie sich auseinandersetzen müssen. Wir sprechen
in dem Zusammenhang von einer
"Reaktionskonfrontation". Sie ist die
Voraussetzung für ein Neulernen von
nichtzwanghaften Bewältigungsmechanismen.
Letztendlich besteht der Sinn einer
Reizkonfrontation lediglich darin, eine
Reaktionskonfrontation zu ermöglichen.
Die
Frage, wie Patienten bei Expositionen handeln
müssen, damit sie die Oberhand gewinnen und
behalten und in welcher psychischen Verfassung
das zu geschehen hat, wird in der einschlägigen
Literatur kaum gestellt.
Das
hat damit zu tun, dass man noch zu wenig
reflektiert, wie Patienten sich dabei fühlen,
wenn sie mit ihren üblichen zwanghaften
Unternehmungen befasst sind. Dabei berichtet zum
Beispiel fast jeder Checker über seine
"Unvollständigkeitsgefühle", die ihm die eigene
Person und die Umgebung so "unfertig" und
unbefriedigend erscheinen lassen, so dass er
kaum eine Handlung absolvieren kann, die ihm
abgeschlossen und damit vertrauenswürdig
erfolgreich erscheint.
Die
andere Seite der Medaille sind die oft von
Patienten in ihrer Not eingeleiteten
Kompensationsversuche. In einer Haltung der
Überanstrengung mit Hypervigilanz fixieren sie
dann ihre Aufmerksamkeit auf irgendwelche
einzelne Aspekte der Situation, allerdings ohne
stringenten Plan. Sie irren von Detail zu Detail
und erlangen dadurch erst recht keine Übersicht,
die sie handlungsfähig machen würde. Nur dann,
wenn sie es gelernt haben, im Rahmen von
Expositionen ihre Wirklichkeit anders, das heißt
klar, präzise und an ihren Bedürfnissen
orientiert zu konstruieren, sind sie auch in der
Lage die Handlungen auszuführen, die sie
verlässlich zu ihren jeweiligen Zielen führen.
Überlässt
man,
besonders am Anfang, bei Expositionen die
Patienten sich selber, so werden sie kaum zum
Ziel kommen. Sie werden sich genau so
„ungeschickt“ verhalten wie eh und je. Auf diese
Art sind nur schwer Lerneffekte zu erzielen, ja
es besteht sogar die Gefahr einer Verstärkung
der Symptomatik. Ein anderes Problem beim Lernen
im natürlichen Lebensraum ist, dass die dazu
erforderliche Arbeit eine Menge Kraft und viel
Ausdauer verlangt. Nun haben Patienten in der
Regel diese Kraft nicht zur Verfügung und schon
gar nicht die Ausdauer. Sie vermögen es nicht,
von sich aus eine innere Haltung einzunehmen,
die durch eine ausreichend hohe psychische
Spannkraft gekennzeichnet ist. Unter
Berücksichtigung all dieser Umstände ist die
therapeutische Arbeit, zumindest am Anfang, nur
dann Erfolg versprechend, wenn ihnen jemand zur
Seite steht, der sie ermutigt anleitet. Dadurch,
dass er den Lernvorgang lenkt, senkt er auch die
Energiekosten, die die Patienten aufbringen
müssen, um ihre Zwangssymptome auf eine neue Art
zu bewältigen und zu ihren im wahren Leben
angesiedelten Zielen zu gelangen.
Expositionen mit Anleitung zur
Subjektkonstituierung: ein Beispiel
Auch
in Gegenwart zwangsauslösender Stimuli soll ein
gefestigtes Gefühl von körperlicher und
seelischer Integrität und Geschlossenheit
aufgebaut werden. Das Ich soll als oberste
Steuerinstanz des Handelns möglichst voll erlebt
werden. Umso besser das gelingt, umso leichter
fällt es sich von den Inhalten der Zwänge zu
distanzieren und sich den damit einher gehenden
Gefühlen zu stellen, mit dem Ziel, trotzdem die
notwendigen Handlungen „im realen Leben“ immer
sicherer zu vollziehen.
Das
wird geübt in realen Lebenssituationen der
Patienten, die sie bislang als kritisch, das
heißt als zwangsauslösend, erlebt haben. Sie
können in einer klassischen Hierarchie nach
ihrem subjektiven Schwierigkeitsgrad geordnet
werden. Bei der Expositionsarbeit, mit der
entsprechenden Vorbereitung und Nachbereitung,
geht es nicht um eine möglichst große Anzahl von
zu übenden Situationen, sondern um die
Ausführlichkeit und Tiefe der Arbeit bei einigen
wenigen.
Wir
werden im Folgenden unsere Vorgehensweise an
einem Beispiel illustrieren. Wir stellen eine
Episode aus der Therapie von Patientin S. , 50
jährig, ledig, von Beruf Angestellte, vor:
Sie
schreibt:
„Neben meinen Kontrollzwängen und
Entscheidungsschwierigkeiten erlebe ich die
Waschzwänge am belastendsten. Die größte Angst
habe ich vor dem Kontakt mit Asbest. Ich
vermeide damit in Berührung zu kommen oder muss,
falls ich in der Nähe dieses Stoffes war und
nicht sicher bin, damit keinen Kontakt gehabt zu
haben, mich, meine Kleidung oder was sonst damit
in Berührung gekommen sein könnte, waschen oder
abwischen. Wenn ich zum Beispiel einkaufen gehe,
bin ich die ganze Zeit mit der Möglichkeit einer
Asbestvergiftung innerlich beschäftigt. Wenn ich
an einem Haus vorbeigehe oder an einer Person,
die mir suspekt erscheint, kann ich nicht mit
Sicherheit sagen, ob ich sie berührt habe oder
nicht, auch wenn ich objektiv sehr weit an ihnen
vorbeigegangen bin. Ich bin auch nicht sicher,
ob meine Hand sich nicht in Richtung
potentieller asbestverseuchter Gegenstände
bewegt hat, ob ich zum Beispiel etwas in die
Hand genommen habe oder nicht. Diese Frage
beschäftigt mich dann den ganzen Tag…“.
Die
Berührungsvermeidungszwänge
hätten sich nach einer krisenhaften
Lebenssituation zuerst auf eigene und fremde
Körperausscheidungen und - flüssigkeiten
bezogen. Nach dem Auszug aus dem Elternhaus habe
sie gehört, dass der Vermieter ihrer ersten
Wohnung diese vor drei Jahren einer "nicht
fachmännisch" durchgeführten Asbestsanierung
unterzogen habe. Danach setzten sich die Ängste
vor Asbestverseuchung an die Spitze der
gefährlichen Stoffe.
Wir
schildern nun unsere Vorgehensweise an einer
typischen Expositionssituation.
Vorbereitung der Exposition
Wie
wir aus den Schilderungen der Patientin und
anlässlich von vorwiegend diagnostisch
zentrierten Expositionen (s. Hoffmann und
Hofmann, 2012) in unserer Begleitung,
feststellen konnten, leidet die Patientin an
einer Reihe typischer
„Unvollständigkeitserlebnisse“. So hat sie im
Umgang mit kritischen Stimuli das Gefühl für
Distanz weitgehend verloren, leidet an einer Art
„Auflösung“ ihrer Körpergrenzen, ist sich nicht
sicher, ob sie ihren Arm bewegt hat oder nicht.
In
einem solchen Fall, und nur bei Vorherrschen
solcher Defizite und Störungen, müssen den
eigentlichen Expositionsübungen andere Übungen
vorangestellt werden, die gezielt auf die
Korrektur solcher Defizite ausgerichtet sind.
Bei Frau S. führten wir unter Anderem folgende
Übungen durch:
-
Übungen zum Ich-Erleben
Wie
Konzentration
auf bestimmte Körperteile, um sie so deutlich
wie möglich zu spüren und die Konzentration
immer länger aufrechtzuerhalten. Dabei ist der
Körperteil „zu beseelen“ und als Teil des
eigenen Ichs zu empfinden.
-
Übungen zur Förderung des Gefühls der
Entfernung, zum bewussten Erleben der eigenen
Körpergrenzen und zum Spüren von Bewegungen
Dabei
reduziert
oder vergrößert die Patientin bewusst ihre
Distanz zu bestimmten Personen oder Gegenständen
und registriert die Unterschiede. Sie soll zum
Beispiel auf der Straße bewusst in einer
Entfernung von 2 Meter an jemandem vorbeigehen,
einer anderen Person immer näher kommen,
schließlich jemand in Gedränge leicht rempeln
usw.
-
Übungen zur Gegenwartskonstituierung durch
Situationserfassung und-analyse
Dabei
geht es darum zunächst einfache, dann zunehmend
komplexe Sachverhalte wie Fotografien oder reale
Situationen bewusst wahrzunehmen und "wirklich"
zu erleben.
-
Übungen zur Sensibilisierung für eigene Wünsche
und Bedürfnisse
Die
Patientin
begibt sich zum Beispiel in eine frei gewählte
Situation (am Anfang mit möglichst wenig
zwangsrelevanten Stimuli) und registriert welche
Empfindungen, Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche
sich bei ihr bemerkbar machen. Sie stellt fest,
was für sie einen Anreizcharakter hat und was
dadurch bei ihr angesprochen wird.
-
Übungen zur Steuerung und zur willentlichen
Ausführung von Handlungen
Es
kommt darauf an, dass die Patientin im Vorfeld
der Ausführung verschiedener Handlungen den
Willensakt, der ihnen vorausgeht, bewusst
registriert. Darüber hinaus soll sie bei den
Bewegungen den eigenen Körper und die an einer
Bewegung beteiligten Gliedmaßen deutlich spüren.
Am
Anfang ist es notwendig solche Übungen in
Gegenwart des Therapeuten durchzuführen, um die
Patientin klar zu lenken und ihr zu helfen, ihre
Eindrücke und Lerneffekte zu organisieren. Die
Gegenwart und der Einfluss des Therapeuten
werden dann in zunehmendem Maße zurückgenommen.
Während der Exposition
Wir
wählen eine Szene aus der Therapie von Frau S.:
Sie steht vor einem Einkaufszentrum. In der
Zeitung hat sie gelesen, dieses Gebäude sei vor
zwei Jahren „asbestsaniert“ worden. Das macht
sie sehr misstrauisch („Pfusch...wie bei der
Wohnung damals…“). Sie soll nun das Gebäude
betreten, und sich darin so "normal" bewegen,
z.B. etwas einkaufen oder etwas essen.
1.
Gegen ihre Orientierungsschwäche soll sie wieder
lernen, eine klare Wahrnehmung der Umgebung zu
gewinnen, sie zu strukturieren und Ordnung in
ihrem Kopf zu schaffen.
Am
Anfang teilt sie ihre Wahrnehmungen und
Überlegungen dem Therapeuten laut mit.
Hilfen
des am Anfang anwesenden Therapeuten:
„Beschreiben Sie, was Sie vor sich sehen.
Verlieren Sie sich nicht (asbestgesteuert!) In
Details und Grübeleien, sondern gewinnen sie
zuerst, wie aus der Vogelperspektive, einen
groben Überblick, den Sie dann immer mehr
differenzieren. Starren Sie nicht auf ein
Detail, sondern bewegen Sie ihre Augen mit
weitem Blickfeld. Stellen Sie sich fest auf die
Erde, nehmen Sie den Ihnen gebührenden Raum ein
und versuchen Sie ein Gefühl der Beherrschung
der Situation in sich herzustellen. Sehen Sie
sich schließlich die Menschen an, die sich um
das Gebäude herum bewegen und fragen Sie sich,
was wohl in ihnen vorgeht (zwangsfreie
Modelle!)".
2.
Gegen die bisherige Blockierung durch
zwangsbedingte Unlustgefühle.
Hilfen
des Therapeuten: „Erinnern Sie sich an einige
Kaufhäuser, die Sie in Ihrem Leben kennen
gelernt haben und in denen Sie sich wohl gefühlt
haben? Was haben Sie dort gemacht? Was haben Sie
eingekauft? Was haben Sie gegessen? Mit wem
waren Sie dort? Wie haben Sie sich dort gefühlt?
Was
könnten
Sie hier alles machen? Verspüren Sie hier
irgendwelche Wünsche? Möchten Sie irgendetwas
einkaufen, das Sie brauchen oder auf das Sie
Lust haben? Was könnte es noch am ehesten sein?
Wie würden Sie sich dabei fühlen? Was könnten
Sie Ihrem Zwang entgegnen, wenn er versucht Sie
davon abzuhalten, indem er Ihnen Verseuchung,
mögliche Lebensgefahr oder ähnliche
Geistergefahren vorgaukelt. Was halten Sie von
den anderen Menschen, die Sie hier ein und
ausgehen sehen. Was machen sie für ein Gesicht,
was geht wohl in ihnen vor?“
3.
Entgegen einem diffusen Agieren und Reagieren
wieder lernen, Absichten und Pläne klar zu
fassen
Hilfen
des Therapeuten bei der Zielbildung: „ Was
können Sie sich schon zutrauen? Was könnte Ihr
erstes Ziel sein? Alles ist möglich, von sich
annähern bis hin zu etwas einkaufen oder essen,
Sie entscheiden allein darüber. Wenn Sie etwas
versuchen wollen, dürfen Sie aufhören, wenn es
Ihnen zu viel wird. Dann sind wir noch längst
nicht am Ende, wir werden uns ein leichteres
Ziel suchen. Wichtig dabei ist, dass Sie eine
klare Entscheidung treffen."
Die
Patientin berichtet, sie könne sich jetzt
vorstellen, das Gebäude zu betreten und sich
umzusehen.
Hilfen
des Therapeuten bei der Planbildung: „wie
könnten Sie dabei vorgehen? Wenn Sie wollen,
helfe ich Ihnen gerne dabei.“
4.
Entgegen der volitionalen Schwächung, sich
wieder energetisieren und sich Handlungsimpulse
geben
Hilfen
des Therapeuten: "Wir machen jetzt aus dem Plan
einen Vorsatz: Atmen Sie tief durch, richten sie
sich voll auf und sagen Sie laut: So, ich will
jetzt hineingehen und ernsthaft probieren wie
weit ich komme."
Die
Patientin betritt das Gebäude, zusammen mit dem
Therapeuten.
5.
Entgegen der Vermeidungstendenzen sich ein
volles Erleben erlauben und auch Unlustgefühle
zulassen.
Es
geht um den Umgang mit den zwangsbedingten
aufkommenden Reaktionen. Die Patientin lernt sie
zu „halten“: Sie führt also im Anschluss an die
Reizexposition eine Reaktionsexposition durch,
die sie möglichst durchhalten soll, bis eine
deutliche Reduktion der Angst erfolgt ist.
Hilfen
des Therapeuten: „Stemmen Sie sich nicht gegen
Ihre Gefühle, lassen Sie sie zu, ansonsten bauen
Sie noch mehr Druck in sich auf. Sagen Sie
nicht: Hoffentlich gehen sie, Angst, Ekel,
Gedanken an Asbestverseuchung, bald vorbei. Sind
Sie in der Lage weiter zu machen? Keine
Selbstvorwürfe „Wie kann ich bloß…“! Haben Sie
Geduld mit sich. Alles was in Ihnen passiert,
hat seine Berechtigung. Es kommt aus Ihrer
Lebensgeschichte und ist ganz relevant für die
Therapie. Wie fühlen Sie sich? Wollen Sie noch
weiter machen?"
Die
Patientin betritt einen speziellen Laden und
interessiert sich für Handtaschen, fasst sie an,
zuerst mit einem Finger usw.
6.
Gegen die Verhaltenshemmung
Gegen
Zögerlichkeit
im Handeln oder als Kompensation dagegen,
vorschnell-impulsives Agieren, sollen klare
energische Bewegungsabläufe etabliert werden.
Dabei soll die Patientin sie voll bewusst
registrieren, mit einem deutlichen Gefühl der
Kontrolle und der Steuerung. Sollte das
„Wirklichkeitsgefühl“ nachlassen, wird sie die
Handlung kurz unterbrechen und sich körperlich
neu mobilisieren. Sie soll auch lernen zu
experimentieren („Wie weit könnte ich schon
gehen?“) und ihre Risikobereitschaft gegen die
vorher stark bestimmenden Unlustgefühle
auszuweiten.
Hilfen
des Therapeuten: Er beobachtet die Patientin
genau, leitet sie dazu an, sich beim Handeln
voll zu spüren und ein deutliches Gefühl der
Selbstkontrolle in sich wach zu rufen.
Er
regt sie auch zum Experimentieren an und fördert
dabei Neugier, Funktionslust und Wagemut „
Das ist ja interessant, wie Sie eben reagiert
haben. Das ist ja schon ganz prima. Gibt es
etwas, was Sie als nächstes angehen können?“
Schließlich
entscheidet sich die Patientin dazu, eine
Handtasche zu kaufen, mit der Absicht, sie mit
in ihre Wohnung zu nehmen.
Selbstverständlich
muss
in diesem Zusammenhang eine weitere kritische
Expositionssituation erfolgen. Es treten zu
Hause Gedanken auf, sie könne mit der
„asbestverseuchten“ Tasche, Objekte und Teile
ihrer Wohnung kontaminieren, die sie dann mühsam
reinigen müsste oder im schlimmsten Fall gar
nicht mehr benutzen könnte. Auch ihr
zwangsbedingtes Waschverhalten muss durch
gemeinsame Übereinkünfte unter Kontrolle
gehalten werden. Dieser Teil der Arbeit wird vom
Therapeuten auch in vivo oder am Telefon
begleitet.
Nachbereitung der Exposition
Sie
soll möglichst am Tag danach im Therapieraum
stattfinden.
Hilfen
des Therapeuten:
Zuerst
wird
die Patientin ausführlich für ihren gestern
gezeigten Mut und für ihre schon erreichten
Erfolge gelobt, wobei der Therapeut sich bemüht,
Gefühle wie Stolz, aufkommende Selbstwirksamkeit
und die weitere Bereitschaft, sich neuen
Schwierigkeiten zu stellen, zu fördern. Es
werden gestern aufgetretene Schwierigkeiten
besprochen und eventuell neue Möglichkeiten zu
ihrer Bewältigung eingeübt. Die nächsten
Schritte der Therapie werden gemeinsam
besprochen.
Auf
die Art werden die wichtigsten Situationen der
Patientinnenhierarchie bearbeitet solange, bis
sie die darin vorkommenden Schwierigkeiten mit
einer stark reduzierten oder ganz ohne
Zwangssymptomatik bewältigen kann.
Drei mögliche kritische Fragen zu
unserer Vorgehensweise
Bringen
Sie dem Patienten nicht eher bei zu vermeiden,
als sich ihrem Zwang zu stellen?
In
gewisser
Weise ist dieser Einwand verständlich. Wir
wollen den Patienten in der Tat nicht dazu
bringen, sich z.B. in einer Buchhandlung
lageorientiert nur mit ihren Ängsten zu
beschäftigen und sie auszuhalten, mit dem
eventuellen Ziel einer „Habituation“. Wir
verlangen schon von ihnen, dass sie sich ihren
Gefühlen stellen, d.h. dass sie eine
Reaktionsexposition durchführen. Aber
gleichzeitig sollen sie immer mehr ihre dem
normalen Leben entstammenden Interessen, wie die
für eine bestimmte Literatur, wachrufen und
nicht nur (sicherheitsbedacht im Sinne des
Zwangssystems) zu handeln. So gut sie es schon
können, ermuntern wir sie dazu immer mehr mit
ihren gesunden sie weiter bringenden
Lebenszielen zu beschäftigen. Wenn das gelingt,
bekommen sie zusätzlich immer mehr Distanz zu
den Inhalten der Zwänge und werden immer besser
und schneller damit „fertig“.
Die
Voraussetzung
für diesen Prozess ist allerdings, dass die im
Zwang beschädigten oder gehemmten Funktionen
zuerst unter möglichst zwangsfreien Bedingungen
eingeübt werden. Dadurch gelingt es ihnen immer
besser, sie auch später in kritischen und
spannungsreichen Situationen zu aktivieren und
einzusetzen.
Warum
eine schrittweise Vorgehensweise und keine
massierte Konfrontation?
Unsere
schrittweise
(und vorsichtige) Vorgehensweise erweist sich
erfahrungsgemäß als sehr hilfreich bei eher
ängstlichen und depressiven Patienten, die am
Anfang kaum zu drastischen „Gewalttouren“ zu
motivieren sind. Oft genug ist auch
festzustellen, dass ein solches Hauruckverfahren
eher „Mutproben“ fördert als ein
kontinuierliches nachhaltiges Lernen. Daneben
wenden wir uns auch an solche, die eine geringe
innere Distanz zu ihren „überwertigen“
Zwangsideen haben und sich diese Distanz erst in
der Therapie erarbeiten müssen. Beide Kategorien
werden übrigens in der Literatur als Fälle mit
eher schlechten Prognosen beschrieben. (Foa,
1997).
Ist
die Wirksamkeit Ihres Ansatzes ausreichend
empirisch belegt?
Wir
sind Anhänger einer phänomenologischen
Betrachtungsweise psychopathologischer Phänomene
(Hoffmann und Hofmann, 2010). Das heißt:
letztendlich kann nur eine intensive direkte
Beobachtung und Exploration der Patienten uns
helfen, wirksame Therapiemodelle zu entwickeln.
Als hauptberuflich praktizierende und
reflektierende Psychotherapeuten haben wir und
jahrelang intensiv mit unseren Patienten, ihrem
Erleben und ihrem Verhalten, beschäftigt. Unsere
auf dieser Basis erarbeitete Vorgehensweise
haben wir selber und unsere Supervisanden und
Kollegen in vielen praktischen Therapien mit
gutem Erfolg angewandt (z.B. Hoffmann und
Hofmann, 2002, 2005, 2010, 2012). Allerdings
fehlt eine größer angelegte empirische Studie,
etwa ein Vergleich mit einem anderen
Expositionsmodell.
Literatur:
Ecker, W. (2014). Ausgewählte
neuere Entwicklungen in der kognitiven
Verhaltenstherapie von Zwängen. PiD.
Foa, E.B. (1997). Failure in treating
obsessive-compulsives. Behavior Research
and Therapy 17, 169-176
Hoffmann, N. & Hofmann, B. (2002). Expositionen
mit Anleitung zur Subjektkonstituierung.
In W. Ecker (Hrsg.), Die Behandlung von Zwängen
(S. 113-115). Bern: Huber.
Hoffmann, N. & Hofmann, B. (2005). Verhaltenstherapie
bei Zwangsgedanken.
In P. Neudeck, H-U. Wittchen u.a. (Hrsg.),
Konfrontationstherapie bei psychischen
Störungen. Göttingen: Hogrefe.
Hoffmann, N. Hofmann, B. (2021). Zwanghafte
Persönlichkeitsstörung und Zwangserkrankungen.
Therapie und Selbsthilfe.
Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg.
Hoffmann, N. Hofmann, B. (2018).
Expositionszentrierte Verhaltenstherapie bei
Ängsten und Zwängen.
Beltz-Verlag, Weinheim. (4. Auflage)."
Hofmann, B. & Hoffmann, N.
(1998). Kognitive Therapie bei
Zwangsstörungen. In H. Ambühl (Hrsg.),
Psychotherapie der
Zwangsstörungen (S.62-95). Stuttgart: Thieme.
Janet, P. (1903). Les Obsessions et la
Psychasthènie. Paris: Fèlix Alcan.
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